„Mei, ist die blad“ (wienerisch für: mein Gott, ist die fett) ertönt es vielleicht zwei Meter neben mir, leise genug, dass es nicht die Sonntagsruhe der gesamten Rotenturmstraße stört, aber laut genug, dass ich es mit anhören muss. Ich lege eine 90-Grad-Drehung hin, und da steht sie: weit über 70, mir irgendwo bis zur Schulter reichend (also um die 1,45), und unter ihrem Wintermantel versteckt sich eine Figur irgendwo zwischen gedrungen und rundlich. Ich sehe diese Vertreterin des goldenen Wiener Herzens für einen Moment relativ fassungslos an, dann gelingt es mir, ein „Das sagen gerade Sie?“ zu formulieren. „Ich bin noch lang nicht so dick wie Sie“ antwortet die ertappte Kröte, etwas überrascht und empört wegen meiner Widerworte. Ich rufe ich ein „Zwerg“ nach (ja, weder sehr eloquent noch sonderlich politisch korrekt, aber etwas Besseres fällt mir in dem Moment nicht ein), drehe mich um und gehe weiter, um nicht zu spät zum Familienmittagessen zu kommen.
Beim Essen erzähle ich den Vorfall als Anekdote, amüsiert, dass gerade eine vollschlanke alte Dame glaubt, über andere herziehen zu müssen. Der Vorfall macht mich aber nachdenklich. An sich lebe ich ziemlich gut in und mit meinem runden Körper. Ab und zu kommen aber hässliche Kommentare von fremden Menschen – und zwar zu einem nicht geringen Teil von älteren bis alten Frauen.
Die pensionierte Kröte in der Rotenturmstraße.Die Psychologin, die sich über meine nicht normenkonformen Maße empört. Die betrunkene Alte, die findet, mein Rock sei „zu kurz für meine fetten Beine“. Die Autofahrerin, die mir pantomimisch aus dem Fahrzeug anzeigt, dass sie mich zu dick hält. Die sonnengegerbte Pensionistin im Billa Pilgramgasse, die mir rät, weniger Gebäck zu kaufen wegen meiner Figur (und die offenbar angenommen hat, die drei Semmeln wären mein Abendessen und nicht eine Gebäckration für zwei Tage).
Ich frage mich, was für ein Muster dahinter steckt. Ich sehe in älteren Frauen weder Feindinnen noch eine Bedrohung, sondern oft Inspiration, in Sachen Erfahrung und Mode und mehr. Warum löst der Anblick einer gepflegten, gut gekleideten Plus Size Frau, die sich offenbar in ihrem Körper wohl fühlt, in manchen reifen Frauen den Wunsch ab, Gehässigkeiten abzulassen? Wie tief hat sich der „dünn ist gleich schön ist gleich wertvoll“-Kodex in ihre Wesen und Seelen eingegraben? Warum versuchen sie, mich, eine um einiges jüngere Frau runterzumachen? Finden Sie, jemand mit meiner Figur hat sich zu schämen und sich zu verstecken, und ist meine Art, mich so zu kleiden wie eine Schlanke ein rotes Tuch für sie? Suchen sie verzweifelt nach einer Bestätigung ihres schlanken Werts, eine Bestätigung, die unsere Jugendwahn-Gesellschaft ihnen zu geben verweigert? Oder spüren sie, dass ich stark und selbstbewusst und eigentlich glücklich bin, und fühlen sich davon angegriffen? Erinnert mein Anblick sie an die hunderten Törtchen und Bonbons und Häppchen, sie sich während ihres langen Lebens versagt haben, und die sie vielleicht doch hätten haben können? Bringe ich ihre Werte ins Wanken, oder suchen sie nach einer Bestätigung ihrer Überlegenheit?
Ich verstehe diese Denkweise nicht. Andere herunterzumachen ändert die Welt nicht zum Besseren. Fällt mir an einer Frau etwas auf, das mir gefällt (Beispiele aus letzter Zeit: komplexes Tattoo oder wallende silberne Locken oder ungewöhnlicher Schmuck) gehe ich sehr oft zu der Fremden hin und mache ein Kompliment – sehr sanft und vorsichtig, weil man das in Wien (generell in Mitteleuropa) nicht macht, und ich die Dame nicht erschrecken will. Wenn mir etwas nicht gefällt, halte ich den Mund und erinnere mich daran, dass Geschmäcker verschieden sind und dass ich die Lebensgeschichte des Menschen in der Regel nicht gut genug kenne, um mir ein korrektes Urteil zu erlauben. Ich sage auch nicht, dass man keine Meinung über etwas haben darf, aber manchmal hilft, sich und seine Standpunkte und Informationsstand mal zu gründlich hinterfragen, und darüber nachzudenken, ob man jetzt wirklich den Mund aufmachen muss und was man damit erreichen will. Liebe böse alte Damen (und junge Damen und boshafte Herren jedes Alters): Andere zu verletzen und klein zu machen, lindert das eigene Elend nicht, zumindest nicht auf Dauer …
Foto (C) Rhea Krcmarova