Das Fremde und der Wohlstand

Das Fremde macht uns Angst. Das Fremde zieht uns aber auch an. Es fasziniert. Aber was bedeutet überhaupt fremd? Und wie viel Fremdes steckt in uns?

Menschen aus fernen Ländern und anderen Kulturen sind augenscheinlich fremd. Sie kleiden sich anders, verhalten sich anders. Sie beten, essen und lachen anders. Sie fallen auf.

Aber nicht nur sie sind fremd. Auch wir, die wir uns gut kennen, wir, die wir in derselben Stadt, im selben Dorf oder im selben Tal geboren sind, wir Altbekannten also sind uns oft äußerst fremd. Wir haben unterschiedliche Meinungen, konträre Ideen und Lebensentwürfe, verstörenden Gewohnheiten. Wir sind - könnte man sagen - sehr oft einander nicht grün.

Auch die Wege unsere Geschichte sind dicht gepflastert mit Fremdheiten aller Art. Das Christentum, das angeblich unsere Identität ausmacht, war vor knapp 2000 Jahren ein kulturfremder Import aus dem Nahen Osten und hierzulande ebenso fremd, wie es noch vor gut 100 Jahren die Demokratie war. Die Kartoffel rettete vielen unserer Vorfahren nach dem Dreißigjährigen Krieg das Leben und war als vollkommen fremde Pflanze nicht lange davor nach Europa gekommen. Gar nicht zu reden von der Eisenbahn. Die war uns nicht nur fremd, sie galt uns sogar als Teufelswerk. So warnte das bayrische Obermedizinalkollegium ganz eindringlich davor, da nicht nur das Besteigen, sondern schon der bloße Anblick einer Lokomotive eine Gehirnkrankheit auslösen könne. Wir sollten uns heute über die hirnliche Gesundheit dieses Kollegiums kein Urteil anmaßen, aber eines sollten wir uns klarmachen: Unsere Identität, unsere Kultur ist das Produkt von Fremdheiten.

Was Menschen betrifft, fordert man gerne und oft auch laut Integration. Fremde, so hört man zuweilen ohrenbetäubend, müssten sich an die Leitkultur, an die Mehrheitsgesellschaft anpassen. Doch Anpassung ist keine Integration. Anpassung ist Assimilation. Integration geht auf das lateinische Wort »integrare« zurück, das soviel bedeutet wie: wiederherstellen, erneuern, geistig auffrischen. Integration bedeutet also nicht, dass sich das Fremde an das Gewohnte anpasst. Integration bedeutet, dass das Fremde das Gewohnte verändert und umgekehrt. Integration bedeutet, dass etwas Neues entsteht. Integration bedeutet Innovation, Fortschritt und Wohlstand.

Hätte sich der Erfinder des Rades - so es ihn jemals gab - an die Mehrheitsgesellschaft bloß angepasst, würden wir noch immer am Boden sitzen und maximal zu Fuß gehen. Hätten sich Galileo und andere Astronomen an den Denkgepflogenheiten der Zeit orientiert, würden wir die Welt noch immer für eine Scheibe halten und bei jeder simplen Kreuzfahrt am Rand der Welt samt Schiff in die Hölle hinunterfallen. Wären Alexander Fleming und nachfolgende Wissenschaftler bloß den bekannten Wegen gefolgt, dann wäre das Penicillin unentdeckt und die lebensrettende Wirkung von Antibiotika unbekannt geblieben. Das Fremde führt zu Innovation und rettet Leben. Das Aussperren des Fremden hingegen führt nicht nur zu einer geistigen Verarmung, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Verelendung der Gesellschaft.

Dieser Tage kommen viele Fremde zu uns. Wir wissen nicht, wer bleiben wird. Wir wissen nicht, wie viele es sein werden. Und wir wissen auch nicht, was das im Einzelnen bewirken wird. Dass es nicht leicht für uns wird, wissen wir aber. Und bei einem aufmerksamen Blick in unsere Geschichte wissen wir außerdem: Wenn uns Integration gelingt, dann wird unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und Kultur eine bessere als heute sein.

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Erkrath

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fischundfleisch

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