Die Flüchtlinge und der Ederer-Tausender

Die Solidarität ist groß in Europa, keine Frage. Menschen melden sich zu Wort, sie organisieren sich, sie spenden und helfen. Das ist beeindruckend und macht Hoffnung. Aber der nationale Egoismus ist ebenso groß, im offiziellen Europa derzeit wohl größer und stärker als die Solidarität. Die nationalistischen Regierungen berufen sich dabei auf ihr Volk, auf dessen Ängste und Sorgen ums eigene Wohlergehen.

Warum aber – fragt man sich – traten diese Länder jemals der EU bei? Etwa nur deshalb, um die Vorteile einer Gemeinschaft zu nutzen, ohne einen Beitrag dafür leisten zu wollen? Aber konnte man jemals davon ausgehen, dass das funktioniert? Kann irgendjemand glauben, die Regale im Supermarkt regelmäßig leerräumen zu können, ohne auch nur ein einziges Mal an der Kassa zu zahlen? Kann man davon ausgehen, dass das Vereinslokal des Clubs, in dem man Mitglied geworden ist, auch in Zukunft so praktisch und komfortabel sein wird, ohne dass man jemals selbst Hand anlegt und beim Ausmalen mithilft? Kann und konnte man jemals davon ausgehen? Ich frage hier gar nicht nach Herzensgüte, ich frage schlichtweg nach Intelligenz.

Denken wir an Österreich. Denken wir gut 20 Jahre zurück. Denken wir daran, wie vor der Volksabstimmung versucht wurde, die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit eines EU-Beitritts zu überzeugen. Allerlei Vorteile wurden landauf, landab plakatiert: Keine Reisepässe würde man mehr brauchen, mehr Waren würden ins Land kommen und diese würden obendrein billiger werden und, und, und. Zum Sinnbild für all diese Vorteile wurde der „Ederer-Tausender“, den es in der einen oder anderen plakativen Form wohl in allen EU-Ländern vor dem Beitritt gegeben hat: Zumindest 1.000 Schilling – so die damalige österreichische Staatssekretärin – würde sich jede Familie pro Monat sparen können. Eine schöne Gehaltserhöhung wurde da in Aussicht gestellt. Ich frage nicht, was aus dem Versprechen geworden ist. Ich frage bloß, welche Haltung daraus entstanden ist. Halten wir uns politisch bloß an das, was uns einen Vorteil verspricht?

Man kann nur ernten, was man sät. Wenn man den Geist der Vorteilsnahme sät, wird man keine Solidarität ernten. Wenn man Menschen Sand in die Augen streut, darf man sich keinen klaren Blick erwarten. Wenn Opportunismus und Eigennutz die prägenden Merkmale der Politik sind, dann werden Courage, Offenheit und Solidarität nicht die prägenden Merkmale der Gesellschaft sein. Dass es keinen Nutzen ohne Kosten, keine Rechte ohne Pflichten und keine Freiheit ohne die Freiheit anderer gibt, dämmerte den Ländern der EU erst spät. Es ist zu hoffen, dass es keine Abenddämmerung ist, sondern ein Schritt im Erwachsenwerden.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:13

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