Die Tränen des Gletschers - Neuseeland

Zurück in Central Otago, erwartet uns ein wohltuend warmer Abend - unser erster in Neuseeland. Von Wanaka aus nehmen wir am nächsten Morgen die Passstraße zur regnerischen Westküste. Und sie wird ihrem Ruf gerecht. Es schüttet wie aus Kübeln, während wir in Haast Whitebaits essen, auf die man hier so stolz ist. Wir erwarten - ähnlich wie in Italien oder Kroatien - einen Teller leicht frittierter Ährenfische. Doch sie kommen hier als Omlette mit Toast auf den Tisch. Ein unerwartet wundervoller Lunch. Dann geht es weiter. Ein gutes Stück nördlich liegen zwei außergewöhnliche Gletscher - Fox und Franz Josef. Sie liegen auf nur 400 Meter Seehöhe und reichten früher einmal bis zum Meer. Wie so oft in Neuseeland wird über ein und dasselbe Naturereignis Unterschiedliches erzält. Dieses Mal über Franz Josef. Ein Gletscher, zwei Geschichten.

Die erste Geschichte erzählen Geologen, angefangen mit dem deutschen Naturforscher Julius von Haast, der 1822 in Bonn geboren wurde, später britischer Staatsbürger wurde, über Irrwege nach Neuseeland kam und die rätselhafte Idee hatte, den Gletscher nach dem österreichsichen Kaiser zu benennen. Franz Josef - so geht die Geschichte - verdanke seine Existenz dem Aufeinandertreffen zweier Kontinentalplatten. Diese hatten nämlich an der Westküste Neuseelands ein riesiges Gebirge aufgefaltet, an dem seither die warm-feuchten Luftmassen der Tasmansee abregnen und stark abkühlen. Dadurch - so die Wissenschaftler - entstand ein endloser Kreislauf des Eises, das langsam zu Tal fließt und wieder zu Wasser wird.

Anders erzählen die Maori die Geschichte. Sie handelt von Hinehukatere, einem Maorimädchen, das die Berge ebenso liebte wie Wawe. Jede freie Minute streifte sie durchs Gebirge, wanderte durch Täler und kletterte Felswände hoch. Wawe, ihr Geliebter, war nie dabei. Eines Tages aber gelang es ihr, ihn zu überreden, und er begleitete sie in die Berge. Doch Wawe war kein erfahrener Bergsteiger. Das Gebirge war ihm fremd und machte ihm Angst. Er war unsicher und ungeschickt. Und so kam es, dass er - war es eine Lawine, die ihn in die Tiefe riss, oder war es einfach ein falscher Schritt? - über eine Klippe in den Tod stürzte. Hinehukatere war verzweifelt. Sie konnte ihn nicht mehr retten, sie konnte nur noch um ihn weinen. Die Tränen rannen über ihre Wangen, sie rannen über die Steine und wurden zu einem Strom, der ins Meer floss. Als die Götter das sahen, ließen sie den Tränenfluss zu Eis gefrieren und bewahrten so einen sichtbaren Ausdruck dieser Liebe in der Natur.

Wir müssen uns nicht entscheiden, welche Geschichte besser, passender oder schöner ist. Wir dürfen beide hören - und weiter erzählen.

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Erkrath

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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