Vorsicht! Diese Gedanken sind unzeitgemäß. Sie sind überspitzt, erscheinen in ihrem Anspruch naiv und sind möglicherweise gerade hier unangebracht. Oder doch nicht?
In Zeiten, in denen nichts ungesagt und nichts unveröffentlicht bleibt, herrscht kein Mangel an Meinungen. Kaum etwas bleibt unkommentiert, nichts ungepostet. Terabytes an Meinungen stolpern durch die Datenleitungen, füllen unsere Bildschirme, erhitzen unsere Köpfe und pressen unser wallendes Blut wieder zurück in den ächzenden Kreislauf des Datennetzes. Haben wir dadurch mehr Meinungsvielfalt? Standhaftere Charaktere? Eine couragiertere und konstruktivere Zivilgesellschaft? Es erscheint mir zumindest fraglich. Denn im Kreuz- und Querschreien der Meinungen wird kaum noch etwas gehört.
Wie viel Mühe nehme ich auf mich, um eine andere - vielleicht sogar radikal andere - Meinung zu verstehen, ehe ich den eigenen Standpunkt in die Tastatur hämmere? Von welchen Fakten gehe ich aus? Habe ich sie überprüft? Habe ich meinen Gedankengang kritisch in Frage gestellt - seine Folgerichtigkeit, die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, und wohin er führt? Habe ich zumindest versuchsweise die Gegenposition eingenommen und auch diese geprüft – ihre Folgerichtigkeit, ihre Prämissen, ihre Folgen? Mag sein, dass ich bei meiner Meinung bleibe. Mag sein, dass ich sie verwerfe. Mag auch sein, dass sie mir fragwürdig wird, und ich sie noch zurückhalte. Ganz sicher verliere ich so Zeit im minutenschnellen Wettstreit der Meinungen. Aber ich gewinne Qualität und Wertschätzung in der Auseinandersetzung.
Das ist kein Plädoyer für das Verstummen. Und es ist schon gar kein Plädoyer für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. In einer demokratischen und offenen Gesellschaft gibt es keine rechtmäßige Instanz, die über die zulässige Qualität einer Meinung entscheiden kann. Das liegt allein in der Verantwortung jedes Einzelnen. Insofern ist es ein Plädoyer, das sich ausschließlich an den Einzelnen richtet. Es ist ein Plädoyer dafür, innezuhalten, zuzuhören und verstehen zu wollen.
Meinungsfreiheit kann auch bedeuten, auf einen Kommentar zu verzichten. Weil ich dem anderen Raum geben möchte, um ihn besser verstehen zu können. Weil ich meine Pflicht einlösen möchte, mich vorher zu informieren, bevor ich mein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehme.