Ein Ort des Zuhörens - Australien

Samstag, 14. November - Northern Territory. Wenige Stunden nach den Anschlägen von Paris landen wir beim Ayers Rock - inmitten der zentralaustralischen Wüste. In der Sprache der Anangu, einem lokalen Stamm der Aborigines, heißt der Berg "Uluru", und er ist ihnen heilig. Er ist seit mehr als 10.000 Jahren ihr spirituelles Zentrum. Entstanden ist der Uluru in der Traumzeit. Geologen erzählen die Geschichte zwar anders, aber das spielt keine Rolle. Hier hören wir den Aborigines zu. Traumzeit?

In der Traumzeit lebten hier die Mala, die Hasenkänguru-Menschen. Ein Stück entfernt - auf der Schattenseite - wohnten die Kunia, die Teppichschlangen-Menschen. Den Berg gab es noch nicht. Beide wurden eines Tages in Kämpfe verwickelt. Die einen mit Kulpunya, einem bösartigen Hund, die anderen mit den Giftschlangen-Menschen. Die Schlachten waren so heftig, dass die Erde zu beben begann und der Uluru sich aus dem Boden hob. In ihm, so heißt es, wurde der Geist der Mala und Kunia zu Stein. Die Traumzeit ist aber keine Urgeschichte. Sie ist eine von Raum und Zeit unabhängige Welt, die stets gegenwärtig ist. Die gesamte physische Welt hat ihren Ursprung in der Traumzeit. Alles kehrt in sie zurück, und alles ist in ihr gleichrangig: Menschen, Tiere, Pflanzen - Erde und Steine ebenso.

Die Lebensweise der Aborigines war - gemessen an europäischen Verhältnissen - über die Jahrtausende primitiv, ohne Technologie, eng verwoben mit dem Rhythmus der kargen Natur. Dennoch haben sie eine komplexe Mythologie und gedanklich fein gegliederte Spiritualität entwickelt. Gibt es da nicht eine Nähe zu ...? Schluss damit. Schlaue Parallelen zu dem, woher man selbst kommt, verdrehen nur. Sie verdeuten das Vieldeutige. Wir müssen es einfach so stehen lassen. Darum bitten auch die Aborigines - auf Schrifttafeln im nahegelegenen Kulturzentrum. Man möge den Berg nicht besteigen, ersuchen sie, denn der Uluru sei - so geht ihre Bitte weiter - ein Ort des Zuhörens und Verstehens. Nicht alle folgen diesem Wunsch.

Am Abend lesen wir Berichte über Paris, wenige, nur das Allernötigste. Denn es ist nicht viel nötig, um zu verstehen oder nicht zu verstehen. Nichts bleibt in diesen Tagen ungesagt, nichts ungedacht. Jeder weitere Satz darüber wäre nach-gesagt, jeder Gedanke bloß nach-gedacht. In der Mittagshitze ist es still am Uluru. Nur die heiße Luft ist zu hören wie sie über die roten Felsen hinweg durch die Eukalyptusblätter weht. Es ist ein Ort des Zuhörens. Und das ist auch das Einzige, das uns hier in der australischen Wüste zu Paris einfällt: dass wir nichts dringender brauchen als Orte des Zuhörens und des Verstehens.

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Silvia Jelincic

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