Das ist ein Denkversuch, kein Plädoyer für Herzlosigkeit. Es geht, wie so oft in diesen Tagen, um die Flüchtlingsfrage. Kann da in der veröffentlichten und geposteten Meinung bloß die Herzensgüte gegen den blindwütigen Hass antreten? Einer der Dreh- und Angelpunkte dieser rechtspopulistisch verwahrlosten Diskussion ist beispielsweise das Wort »Gutmensch«, ein durch und durch widerwärtiger und denunzierender Begriff. Ich denke aber, dass man diesem Thema jede Emotion entziehen kann und noch immer zum Ergebnis kommen würde, dass es sinnvoll und notwendig ist, Flüchtlinge aufzunehmen, und zwar im eigenen Interesse. Man braucht dazu keine Empathie und Herzensgüte. Es genügt, einigermaßen bei Verstand zu sein - die Realität zu kennen und folgerichtig denken zu können.
Stellen wir uns vor, wir würden die Grenzen dichtmachen, Mauern errichten und alle Flüchtlinge so gut es geht von Österreich fernhalten. Gut, die Menschen ziehen weiter. Vorerst. Sie klopfen an die Tore anderer Länder. Doch diese haben die Türen auch geschlossen, sie haben Mauern gebaut und versuchen jeden Flüchtling so gut es geht fernzuhalten. An dieser Stelle ist anzumerken: nur grandios realitätsferne Menschen würden glauben, dass die Flüchtlinge nun nach Hause zurückkehren. Auf Geister dieser Art würde eine Bemerkung von Alexander von Humboldt gut passen, der meinte: »Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.«
Die wenigsten würden heimkehren. In ihrer Not würden sie lernen, die aufgebauten Mauern zu überwinden. Gut, bauen wir höhere Mauern. Menschen in Not lernen rasch. Bald überwinden sie auch diese. Wir bauen weiter, immer höher und höher. Und irgendwann werden wir so viel Geld für Mauern ausgegeben haben, dass das Land dahinter vollkommen verwahrlost und verarmt ist. Es will gar niemand mehr kommen. Die Mauern sind unnütz. Aber wir, wir würden jetzt gerne fluchtartig unser Land verlassen. Wird uns jemand aufnehmen?
Wie gesagt: ein Denkversuch, kein Plädoyer für Herzlosigkeit. Wir können - wenn wir nur diszipliniert genug sind - ohne Emotion diskutieren. Aber wir können nicht ohne Empathie und Herzensgüte leben. Neben Klarheit im Denken sind Empathie und Herzensgüte die tiefsten Wurzeln eines gelingenden Lebens. Das Herz kann uns helfen, wenn wir den Verstand verlieren. Doch in entscheidenden Momenten des Konflikts hilft es uns nicht weiter, ist es nicht verlässlich genug. Denn menschenfreundliche Herzensgüte entspringt ebenso dem Herzen wie menschenverachtender Hass. Im wirklichen und virtuellen Leben prallen diese verständnis- und verständigungslos aufeinander. Retten kann uns hier nur klares und folgerichtiges Denken. Doch dieses muss sich erst Gehör verschaffen inmitten des Geschreis von allen Seiten. Denken braucht Ruhe, Zeit und Genauigkeit. Keine guten Voraussetzungen in Zeiten tobsüchtiger Oberflächlichkeiten. Aber es ist unsere einzige Chance. Denken wir nicht nur nach, denken wir voraus!