Das moderne Europa - oder sollte man blumiger Weise Abendland sagen? - dieses Europa - oder eben Abendland - ist weder christlich noch islamisch. Europa, so wie wir es heute kennen, hat sich gegen beide Religionen durchgesetzt, und wurde nicht von ihnen hervorgebracht. Europa ist ein qualvoll entbundenes Kind der Aufklärung und keine Gottesempfängnis.
Und doch ist Europa in beiden Religionen stark verwurzelt. Ein Widerspruch? Keineswegs. Denn das, wogegen man sich wehren muss, trägt man weiterhin tief in sich. Europas Geschichte und Kultur ist vom Christentum ebenso geprägt wie vom Islam. Das heute als Kampfbegriff in die Diskussion geworfene "christliche Abendland", das es angeblich zu verteidigen gilt, zeugt eher von atemberaubender Ahnungslosigkeit als von echter Kenntnis der Geschichte.
Hat man etwa vergessen, dass der Islam beinahe ein Jahrtausend auf der Iberischen Halbinsel die politisch, religiös und kulturell bestimmende Macht war? Oder haben manche der heutigen Rädelsführer das gar nie gewusst? Die glanzvolle Hauptstadt dieses Reiches, Córdoba, war die weitaus größte Stadt Europas. Sie war wohlhabender als Konstantinopel und die Bibliothek ihrer Residenz umfasste mehr Bücher, als es im ganzen übrigen Europa zusammen gab. Die großartige Kathedrale der Stadt wurde im 8. Jahrhundert als Moschee auf den Fundamenten eines antiken römischen Tempels errichtet. Heute ist sie ein christliches Gotteshaus. So ist Europa.
Dürfen wir das antike Griechenland als die Wiege Europas bezeichnen? Ja, dürfen wir. Zumindest zum Teil. Doch bemerkenswerterweise hat sich das mittelalterliche Europa für seine Wiege überhaupt nicht interessiert. Die griechischen Schriften zu Philosophie und Mathematik, zu Wissenschaft und Staatslehre waren in Europa gar nicht verfügbar. Ganz anders im byzantinischen und islamischen Kulturkreis. Dort wurden die griechischen Schriften übersetzt und mit größter Intensität studiert. Und so kam es, dass die Bücher der griechischen Antike über den arabischen Raum nach Europa kamen. Die islamische Kultur hat - wenn man so will - Europa erst in seine eigene Wiege gelegt. Kein Abendland ohne den Islam.
Hinzu kam die hohe Wertschätzung der muslimischen Welt für das wissenschaftliche Experiment. Das hatte zur Folge, dass praktisch alle bahnbrechenden Erkenntnisse in der Medizin und Physik, in der Mathematik, Astronomie und Geografie von islamischen Gelehrten ausgingen. So griff beispielsweise die sogenannte christliche Seefahrt auf Karten zurück, die der muslimische Geograf al-Idrisi im 12. Jahrhundert angefertigt hatte. Auch Christoph Columbus hatte mehr als 300 Jahre später einen Atlas von ihm an Bord.
Es ist keine Frage: Trotz hoher kultureller Entwicklung zog der Islam eine blutige Spur durch Europa. Das Gleiche gilt für das Christentum. Europa setzte sich zur Wehr und tut es noch heute, und wir sollten weder ein christliches noch ein islamisches Abendland verteidigen wollen. Wenn überhaupt, dann sollten wir ein Europa verteidigen, das sich gegen den politischen Einfluss der Kirchen gewehrt und für Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte gekämpft hat.
Übrigens: Was haben Wörter wie Alkohol, Havarie oder Karaffe, Magazin, Sofa und Zucker gemeinsam? Sie sind arabischen Ursprungs. Und dass wir einen Ausdruck wie "jemanden vor den Kadi zerren" für eine umgangssprachliche Redensart halten, zeigt wie tief die islamische Kultur im abendländischen Erbgut verwurzelt ist. Denn der Kadi ist gemäß islamischer Staatslehre ein Richter. Und bei uns ist er das offenbar auch.