Toleranz ist keine Dekoration

Toleranz ist keine einfache Sache. Toleranz ist die wohl schwierigste Haltung überhaupt. Denn sie muss sich dort beweisen, wo es am schwierigsten ist, wo es uns am meisten weh tut. Sie muss sich an einer Meinung, an einer Lebenseinstellung oder Werthaltung beweisen, die der jeweils eigenen radikal widerspricht. Dort nämlich, wo es uns leicht fällt, wo es bloß um eine mehr oder weniger große Variation eigener Einstellungen geht, dort ist Toleranz sehr oft bloße Attitüde, bildungsbürgerliche Folklore oder seelische Dekoration.

Dort aber, wo wir auf unser Gegenteil stoßen, wo wir auf das aus unserer Sicht Barbarische treffen, dort werden die tiefliegenden Nervenbahnen unserer Toleranz offengelegt. Wir werden harsch aus Selbstverständlichkeiten gerissen, und wir bemerken, dass unser Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten nicht überall geteilt wird. Wir bemerken, dass unser globaler Anspruch, in all diesen Fragen im Recht zu sein, nicht überall Wirklichkeit ist. Wir bemerken, dass die Decke der Zivilisation nicht nur dünn ist, sondern auch zu kurz für die ganze Welt.

Wie muss unsere Toleranz mit Intoleranz umgehen? Gibt es Null-Toleranz gegenüber Intoleranz? Wie geht die Demokratie mit ihren Feinden um? Lässt sie sie gewähren? Oder setzt sie sich zur Wehr und schützt sich – nötigenfalls auch mit Gewalt, mit Intoleranz, mit autoritären Maßnahmen?

Keine Frage, wenn fundamentale Werte wie Freiheits- und Menschenrechte bedroht werden, dann muss man dem entschieden und energisch entgegentreten. Sobald man das aber tut, tritt man in eine Beziehung mit dem Barbarischen ein. Das radikal Andere gewinnt Einfluss, ob man will oder nicht. Um uns vor den Angriffen der Unfreiheit zu schützen, schränken wir unsere Freiheiten ein. Um unsere Menschrechte zu bewahren, weichen wir sie zum Teil auf. Man denke nur an Überwachungsmaßnahmen, die uns vor Terror schützen sollen. Sollte man das etwa nicht tun? Doch, sollte man.

Aber Abgrenzung allein hilft uns nicht. Bloße Abwehr schützt keinen Wert. Wir müssen einen Schritt auf das Andere, auch auf das Barbarische, zugehen, und wir müssen es verstehen wollen. Dieses Verstehen-Wollen - auch wenn es unmöglich scheint - ist eine der tiefsten Wurzeln von Toleranz. Verstehen wollen bedeutet nicht akzeptieren. Doch dieses Verstehen-Wollen gibt unserer Ablehnung Substanz. Dieses Verstehen-Wollen bewahrt uns davor, Toleranz und Ignoranz zu verwechseln. Und vielleicht bringt uns das auch einen Schritt weiter.

Ich erinnere mich dieser Tage an die Anschläge in Kopenhagen, im Februar dieses Jahres. Wie viele andere Radiostationen berichtete auch die BBC ausführlich und vielfältig darüber. In einem der Beiträge war ein kurzes Interview mit einer älteren Dänin zu hören. Sie legte Blumen am Tatort nieder. Doch sie tat es nicht dort, wo die Opfer starben, sondern dort, wo der Attentäter getötet wurde. Warum sie das tue, fragte der Reporter in bekannt trockenem BBC-Stil. Weil an allen anderen Plätzen schon so viele Blumen liegen würden, sagte sie. Freilich sei es falsch, was er getan habe. Er sei eine verirrte Seele gewesen, die in dieser Gesellschaft keine Chance hatte. Und sie hoffe, dass ihm sein Gott verzeihe. Sie hätte, so meinte sie, Mitleid mit seiner Familie und seinem kurzen Leben. Und welchen Einfluss würde diese Tat auf die dänische Gesellschaft haben? - wollte der Reporter wissen. Die Dame weinte leise hörbar und sagte: »Wir müssen toleranter werden - und liebevoller.«

Ja, diese Begebenheit ist eine Ausnahme. Sie beweist auch nichts. Aber sie zeigt, was dem Menschen möglich ist.

Dazu könnte man vieles sagen, erklären. Vielleicht sollte man das auch. Man kann sich aber auch nur an einen Gedanken erinnern, den Ingeborg Bachmann in einer Rede formuliert hat, 1959, vor Kriegsblinden in Köln: »Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist - der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.«

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Silvia Jelincic

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