Über das Schöne, Schroffe und Unnahbare - Australien

Die Idee gab es schon lange. Aber mit dem Bau wurde erst 1919 begonnen. Arbeit war nötig für tausende Soldaten, die den Ersten Weltkrieg überlebt hatten. Sie wurden heimgeholt und von der Front zum Straßenbau geschickt. Auf diese Weise bekamen die Küstenorte südlich von Melbourne, die bis dahin nur über den Seeweg erreichbar waren, eine Verbindung über Land. Und Australien bekam so eine der schönsten Küstenstraßen der Welt. Die Rede ist von der Great Ocean Road, an deren 240 Kilometer fast 15 Jahre gebaut wurde.

Es regnet, als wir in Melbourne aufbrechen. Erst beim Leuchturm am Aireys Inlet wird die Wolkendecke brüchig und die Sonne versucht, uns zu wärmen, während der kühle Wind vom Pazifik hereinweht. Die Küste führt hier nicht zum Meer, sie bricht steil ab. Sind die wogenden Schatten dort unten Rochen oder Schildkröten? Oder ist es nur Seegras? Die eigene Vorstellung muss stärker sein als das freie Auge. Im kleinen Fischerhafen von Apollo Bay essen wir Fish & Chips aus dem Pappkarton. Möwen gehen vor uns auf und ab - auf der Suche nach Fischresten. Die wenigen Fischer, die es hier im letzten Hafen der Region noch gibt, sind schon nach Hause gegangen. Wo an Land Platz ist, stehen Schafe im Gras - oder Kühe.

Zurück auf der Straße fällt der Blick wieder tief hinunter ins Meer. Das Land endet hier schroff im Wasser. Und ebenso schroff beginnt es. Gnadenlos in beide Richtungen. Küsten sind nicht nur eine Augenweide, sie sind auch Grenzen. Je steiler und schroffer sie sind, desto schöner erscheinen sie uns. Aber sie werden dadurch auch unüberwindlicher und unnahbarer. Jeder, der hier an Land kommen möchte, braucht eine helfende Hand. Ein Land wie Australien, das ganz von Wasser umgeben ist, hat eine von Natur aus gnadenlose Grenze. Umso mehr braucht es freisinnige und offenherzige Menschen, die an der Küste helfend ihre Hand ausstrecken. Tut Australien das? Tut es Europa? Was würde Europa tun, wenn es eine ebenso gnadenlose Grenze um sich hätte wie Australien?

Weit draußen brechen sich die Wellen. Und sie brechen sich hart an den ausschweifenden Gedanken. Eine gnadenlos bewachte Grenze verändert die Geschützten vermutlich stärker als die Schutzsuchenden. Denn sie werden ihren offenen und freien Blick für das Meer verlieren - und die Freude an ihrer Küste.

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Silvia Jelincic

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