War der misslungene Staatsstreich militärischer Schildbürger- oder Geniestreich der AKP? Wie auch immer, er war der Startschuss für den wahren Putsch. Einige Spekulationen zum Thema.

Es gibt nichts Dümmeres als Verschwörungstheorien. Und taktisch nichts Klügeres, als im Windschatten ihrer Kritik echte Verschwörungen anzuzetteln. Niemandem war der Putschversuch in der Türkei geheuer. Zwanzig eingeschüchterte Soldaten um das Atatürk-Denkmal am Taksim-Platz, ein besetzter und kampflos wieder aufgegebener Flughafen, zwei mit spärlichem Personal gesperrte Bosporusbrücken, ein kurzes, völlig sinnloses Bombardement des Parlaments in Ankara, die Missachtung elementarer Notwendigkeiten eines Putsches wie Ausschaltung von Regierung, Polizei und Geheimdienst sowie die Kontrolle über die Medien ...

Eine der bestausgerüsteten Armeen der Welt will gegen das System eines Präsidenten putschen, der unter seinen Anhängern – bei ihnen handelt es sich leider nicht um eine demographische Minderheit – eine ähnliche Verehrung genießt wie weiland Lady Di unter den Briten. Nicht die geringste Chance hätte eine neo-kemalistische Militärdiktatur. Dass sich aber nur Teile der Armee zu diesem Kamikazeakt entschlossen, wirkt bizarr und unglaubwürdig. Der doch hohe Blutzoll von 265 Menschen, darunter auch vom Mob gelynchte Soldaten, spricht wiederum gegen einen Fake. Inszenierung oder Revolte der Dilettanten? Warum nicht beides. Ich werde versuchen, die Leerstellen des Faktenmosaiks mit Spekulationen zu spicken. Wie wirklichkeitsnah das Bild dann wird, mögen die Aussagen der überlebenden Putschisten entscheiden, so sie nicht zu Falschaussagen gedungen wurden.

Kokett nannte Erdoğan den Putsch ein „Geschenk Gottes“. Hat er sich selbst im Namen Gottes beschenkt? Nein. Aber – meine Hypothese – er hat Gott ein bisschen beim Shoppen beraten und diesem beim Binden der Verpackungsschleife das Händchen geführt.

Das AKP-Regime verfügt über mannigfaltige Möglichkeiten, Terroristen (und folglich auch Putschisten) im vollen Bewusstsein ihrer Autonomie für sich agieren zu lassen. Nachdem es im Rahmen der Ergenekon-Prozesse den tatsächlich existierenden Tiefen Staat zerschlagen und dabei auch gleich mit kritischen Medien und Intellektuellen aufgeräumt hatte, füllte es die Leerstelle natürlich mit einem neuen Tiefen Staat: Der Nationale Nachrichtendienst (MİT) wurde vom Heer entkoppelt, in seinen Befugnissen erweitert und unter Leitung von Hakan Fidan in eine Art Tiefes Außenministerium verwandelt.

Wenn sich IS-Anhänger gemeinsam mit tanzenden Jugendlichen bei Friedensdemonstrationen der Opposition in die Luft sprengen (wie in Suruç und Ankara 2015), müssen sie nicht einmal wissen, wie sehr ihre Aktionen über ein ausgeklügeltes System geheimdienstlicher Substrukturen, islamischer Vereine und V-Männer manipuliert sind. Die Beweisketten dessen, was die Regierung tut und lässt, was sie fingiert und provoziert, sind so gewunden, dass sie sich in Unübersichtlichkeit verlieren. Manchmal dringt doch etwas an die Öffentlichkeit. Äußerst peinlich war Erdoğan und seinem Kabinett die Veröffentlichung eines heimlich aufgenommenen Gesprächs im März 2014, bei dem der damalige Außenminister Davutoğlu und Vertreter von Heer und Geheimdienst darüber räsonierten, durch Raketenbeschuss von syrischem Staatsgebiet auf die Türkei einen Kriegsgrund zu fingieren. Diese und andere Enthüllungen trugen die Handschrift von Erdoğans Intimfeind und Neckkobold Fethullah Gülen, seiner ganz persönlichen Nemesis.

Vier Feinde hat Erdoğan: die PKK, die Kemalisten, Gülen und – die Demokratie. Letztere brachte ihn vergangenes Jahr gehörig ins Schwitzen, als sie in Form einer Regenbogenkoalition kurdischer Linker mit so ziemlich allen verbliebenen zivilgesellschaftlichen Kräften der Türkei immer mehr Zulauf – und schlimmer noch – internationale Sympathie bekam. Durch Einschüchterung und die Provokation eines Bürgerkriegs wurde diese Bewegung auf den bewährten Antagonismus von Türken versus Kurden, von Rechtsstaat versus PKK zurückgebombt. Die internationale Duldung der Vernichtung von ganzen Städten und den darin lebenden Zivilisten entwertete den Begriff Doppelstandard aber zu einem nichtssagenden Euphemismus. Staaten gerieten wegen geringerer Vergehen schon ins Fadenkreuz des humanitären Interventionismus.

Der islamistische Prediger Gülen und seine große Anhängerschaft waren ein wichtiger Steigbügelhalter Erdoğans. Hatten sie ihm anfangs dabei geholfen, gegen den Kemalismus in Militär und Justiz vorzugehen, würden die neutralisierten Kemalisten ihm nun helfen, den „Gülenismus“ loszuwerden, dessen Einfluss Erdoğan in einer gewissen Paranoia überschätzen mag. Per „General-Amnestie“ im Jahr 2013 wurden viele wegen Putschabsicht verurteilte Militärs enthaftet. Damit konnte die Regierung guten Willen bekunden und die Kemalisten an sich binden.

Einem Militärputsch in der Türkei kann sogar gegen den Willen des Volks kurzfristiger Erfolg beschieden sein, aber nie gegen den Willen der USA. Völlig ausgeschlossen ist es, dass der Coup d'État vom Freitag ohne Wissen des US-amerikanischen Geheimdienstes und Teilen der US-Regierung über die Bühne ging. Erdoğans Unterstützung des IS, seine Vernichtungsgelüste gegenüber dem wichtigsten US-Verbündeten in Syrien, den kurdischen Freiheitskämpfern, und die neoosmanische Rhetorik haben ihn zu einem unsicheren Kantonisten werden lassen. Zudem mehrten sich die Indizien, dass Korruptionsvorwürfe, fatale Einbrüche im Tourismus und der Krieg gegen die eigene Bevölkerung in Ostanatolien der Loyalität von Armee und Bevölkerung Kratzer zugefügt hätten. Und dann war noch diese verflixte HDP mit ihrem Wählerpotenzial von über zehn Prozent, das nach wie vor eine Hürde für das ersehnte Ziel des Präsidialsystems darstellt, eine Hürde, die Erdoğan durch die Aufhebung der Immunität von HDP-Politikern bereits beiseite zu räumen begann. Nie zuvor aber dürften sich Obama, Putin und Erdoğan so einig gewesen sein: Alle drei begrüßten sie einen Putsch, Erstere einen gelungenen, Erdoğan einen gescheiterten.

Am 30. August, dem Tag der Befreiung (Zafer Bayramı) würde die Türkei nicht nur den Sieg über die griechische Armee im Jahr 1922 feiern, sondern die türkische Armee auch der jährlichen Inventur unterziehen, Sonderprämien gewähren, Beförderungen, aber auch Suspendierungen und Degradierungen durchführen. Die Gülen-Anhänger innerhalb des Heeres wussten, dass ihre Tage gezählt waren. Alle 600 bis 1000 von ihnen jedoch an diesem einen Tag zu suspendieren, käme in der Öffentlichkeit nicht besonders gut an.

Warum also – und hier beginnt der spekulative Teil des Texts – sie sich nicht selbst suspendieren lassen? Gerüchte eines bevorstehenden Militärputsches kursierten seit Monaten und wurden vielleicht auch bewusst gestreut. Jene Gülenisten, die wahrscheinlich wirklich ohne Weisung des in den USA lebenden Predigers handelten, und andere AKP-kritische Offiziere wurden in eine Falle gelockt.

Ihre Zuversicht erklärt sich nur durch das Vertrauen darauf, dass, wenn schon nicht die gesamte, so doch zentrale Teile der Armee mitputschen würden. Der Generalstab spielte mit. USA und Russland wurden von der vermeintlich putschbereiten Armeeführung informiert, und Obama und Putin einigten sich darauf, bei Gelingen der Übung die Übergangsregierung anzuerkennen, so wie sie drei Jahre zuvor die ägyptischen Putschisten unter as-Sisi anerkannt hatten.

Am Freitagabend musste eine lächerlich kleines Kontingent von Putschisten erkennen, dass es exakt auf jene Einheiten geschrumpft war, die Erdoğan loshaben wollte, der Rest der Armee hatte sie verraten.

Turkey’s Rose, der Sultan der Herzen landete siegreich auf dem Atatürk-Airport. Das Gerücht, dass er in Deutschland um Asyl angesucht habe, könnte lanciert worden sein, um seinen Auftritt noch glanzvoller zu gestalten, er selbst legte eins drauf, als er behauptete, sein Hotel in Marmaris sei beschossen worden. Über die Minarette wurden nun die Massen, die man je nach Gout als Zivilgesellschaft oder Mob bezeichnen kann, zum Djihad gegen die Feinde der Demokratie aufgerufen. Was die Putschisten von jenen früherer Staatsstreiche unterscheidet: Sie würden ausnahmsweise eine Regierung stürzen, welche die Straße auf ihrer Seite hat, und wie Hitler, den Erdoğan so bewundert, die Mehrheit des Wahlvolkes. Die basisdemokratischen Rollkommandos, die nun losgelassen wurden, und die Polizei agierten wie Bad und Good Cop, Letztere mussten Erstere am Lynchen der zumeist unschuldigen Soldaten hindern, die glaubten, zu einem Manöver abkommandiert zu sein – nicht immer erfolgreich, manch Soldat wurde erschlagen und geköpft, einer in den Bosporus geworfen.

So kann es sich zugetragen haben. Vielleicht auch anders. Wenn die Offiziere, so sie die Folter überleben, vor Gericht die wahren Hintergründe des Coups enthüllen, wird man ihnen nicht glauben. Vielleicht wird im Eilschritt die Todesstrafe eingeführt, vielleicht aber ihr Schweigen mit Amnestie erkauft werden.

Wie auch immer sich diese Farce ereignet haben mag, es war kein Putsch der Armee, sondern einer gegen die Armee. Sie und die Justiz waren die einzigen Institutionen, die noch nicht zur Gänze von Oppositionellen gesäubert waren – unzählbar die Fliegen, die Erdoğan mit einer Hand erwischt hat: Demokratie gerettet, letzte Widerstandsnester der Armee in die Falle gegangen, USA und Russland an der Nase herumgeführt, sich als Retter der Nation stilisiert, jeder Anflug von Opposition bis ans Ende der Tage als Putschismus, Hochverrat und Demokratiefeindlichkeit diffamiert, Weg zur Präsidialdiktatur geebnet – der Reichtagsbrand ist gelöscht, das letzte große Köpferollen kann beginnen. Und wieder je nach Geschmack: brillanter Machiavellismus oder nur, wie Kurt Tucholsky sagen würde: doof, aber gerissen. Nicht anders als seine westlichen Verbündeten eben: Die werden schmollen, wie immer zur Mäßigung mahnen, und Erdoğan weiter freie Hand lassen, die sich nun zur rächenden Faust ballen wird.

Millionen Türken skandierten am Sonntag danach auf den Straßen „Demokratie“, während die Polizei die letzten Demokraten verhaftete. Der Demokratiezug ist dieses Wochenende in seinen Zielbahnhof eingefahren – denn „Demokratie“, plauderte Erdoğan, den Dichter Ziya Gökalp zitierend, schon 1998 aus der Schule, „ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

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