Wieder und wieder muss es gesagt werden: Europa leistet mit seiner Türkeipolitik Schützenhilfe bei Massakern an Menschen und jenen Werten, die zu haben es sich einbildet.
Kleinbürger an der Macht neigen zum Exzess, ästhetisch wie politisch. Ersterer lässt sich schön am Innendesign des türkischen Präsidentenpalastes erkennen, letzterer vollzieht sich in der Türkei durch einen beispiellosen Terror gegen die Zivilbevölkerung.
Ideologisch dürfte sich Recep Tayyip Erdoğan von einer Theateraufführung in Springfield aus der Serie „Simpsons“ inspirieren lassen haben, bei der Zorro gegen Scaramouche, den galanten Marquis, kämpft, um König Artus auf den Thron zurückzuholen, und auch Robin Hood ein paar Pfeile abschießen darf. Solch ein Eklektizismus ist tausendfach bewährtes Marketingkonzept, der Spott der letzten verbliebenen Bildungsbürger kratzt wenig am Erfolg der Kombination von allem, was sich irgendwie gut verkauft. Als ehemaliger Vertreter der türkischen Kleingewerbetreibenden weiß Erdoğan, wie sich Widerspruchslogik marktschreierisch der Logik der Macht unterordnen lässt, und bloß die Politologen, die schon in den 90er Jahren überfordert waren von Jörg Haiders verschmitzter Paarung von Deutschnationalismus mit österreichischer Heimatliebe, raufen sich darob die Haare und nennen es postmodern
In der Tat: Bislang waren Osmanismus, Islamismus und Nationalismus einander spinnefeind und nicht kompatibel: Osmanismus, der überkommene Glaube an ein multiethnisches dynastisches Großreich, Islamismus, ein klerikaler Universalismus, und der türkische Nationalismus, mit dem seit Kemal Atatürk eine multikulturelle Gesellschaft zwangsassimiliert wurde. Emanzipatorische Bewegungen konnten unter dem Clinch dieser ideologischen Riesen immer wieder nachsprießen. Erdoğan, der die systemischen Konjunkturerfolge in der Türkei mit seiner eigenen politischen Größe verwechselt, hat zur Verdummung seiner Anhänger und zur Verfolgung seiner Gegner einander widersprechende Systeme zu Gliedern einer Gebetsschnur geschliffen und den üblichen Katechismus – »Unser Markt ist groß« – durch folgende Formeln erweitert: »Das Türkentum ist groß, die Osmanen waren groß und sollen es wieder werden, aber: Allah ist der Größte – und ich bin sein Filialleiter.«
Als konservative Reformer waren er und seine AKP 2003 angetreten, das kemalistische System zu transformieren. Bald bemerkte er aber, dass er in eine außenpolitische Luxusrolle hineingewachsen war, in der er sich alles erlauben durfte, selbst wenn er Europa und Israel wie ein Zwergpinscher anbellte. Als Nato-Basis im Nahen Osten, als Puffer zwischen Russland und der schiitischen Achse war und bleibt die Türkei unverzichtbar, als Garant der freien Ölströme und neuerdings Drossler der Flüchtlingsströme wird sie hofiert. Im Interview mit der „Presse“ bekannte Sebastian Kurz ein, dass der Drei-Milliarden-Deal mit der Türkei einzig dem Zweck diene, dass diese »sich für uns die Hände schmutzig machen soll«. Aber werden unsere Hände dadurch sauberer? Einem Anmesty-International-Bericht zufolge werden Flüchtlinge in der Türkei inhaftiert und in vom IS kontrollierte Gebiete in Syrien und den Irak abgeschoben.
Mit westlicher Rückendeckung übt sich die Türkei in Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung. Das ist allgemein bekannt, und doch unternimmt niemand etwas dagegen. Weniger bekannt sind die Motive. Das Regime Erdoğan provoziert nicht einen Bürgerkrieg, weil sich die kurdische Opposition etwa radikalisiert hätte, sondern weil sie sich – ganz im Gegenteil – entradikalisiert hat. Und nichts fürchtet es mehr. Denn der Widerstand ist aus den Bergen in die Zivilgesellschaft abgewandert, Gezi-Park und Diyarbakır wuchsen zusammen, die kurdische Linke hat sich in Form der HDP deethnisiert und ist zum schützenden Hort aller feministischen und sozialen Bewegungen, ethnischen Minderheiten, Schwulen, gemäßigten Muslime, und Liberalen in der Türkei geworden. Eine im Nahen und Mittleren Osten so einzigartige und entwaffnende Garantin jener Werte ist diese Bewegung, die sich gerne als die europäischen ausgeben, dass sie mit Geld, Waffen und Freibriefen der europäischen Wertschöpfer vernichtet werden muss. Die Farben des zivilen Regenbogens zwischen Istanbul und Ostanatolien dürfen ihre Strahlkraft um keinen Preis entfalten und müssen in das Schwarz-Weiß eines ethnischen Konfliktes zurückgebombt werden, in ein absolutes Entweder-Oder, kraft dem die neue Zivilgesellschaft als Bande von Hochverrätern diffamiert werden kann.
Lächerlich ist es folglich zu bedauern, der Staatsterror in Diyarbakır, Silope, Cizre und anderen Städten, die systematische Misshandlung und Ermordung von Jugendlichen, Frauen und Männern würde bloß neue PKK-Kämpfer und -Kämpferinnen züchten. Genau das ist das Kalkül dieses Krieges, ein einziges Programm zur Züchtung von klar definierbaren Feinden, die ihre Eindeutigkeit zu verlieren drohen, ist er, mit einem Wort: die Altersvorsorge für Erdoğans Macht.
Möglicherweise eine polemische Überspitzung wäre die Behauptung, Merkel, Juncker und Obama hätten den Abzug des Gewehres gedrückt, mit dem die 25-jährige kurdische Aktivistin Dilek Doğan am 18. Oktober vor den Augen ihrer Familie bei einer Hausdurchsuchung in Istanbul ermordet wurde, nachdem sie die Polizisten gebeten hatte, wenigstens die Schuhe auszuziehen – beweisbar aber ist, dass sie – Merkel, Juncker und Obama – vor der Wohnung Schmiere standen.
Wer sich dieser Tage trotz medialer Einschüchterungsversuche zu beiden Seiten des Bosporus Menschlichkeit, Gerechtigkeitssinn und analytische Präzision nicht aufdröseln und voneinander isolieren lässt, und den Verstrickungen Europas in die Vernichtung der türkisch-kurdischen Zivilgesellschaft nachspürt, kann seines Ekels nur Herr werden durch den Wunsch, Selahattin Demirtaş und seine HDP würden auch im Westen die Ehre jener Werte retten, die deren Monopolisten durch ihre Macht- und Profitjauche tagtäglich besudeln.