Erdoğan als Lachnummer hinzustellen, ist keine Kunst, eine Kunst aber ist es, Politik und Öffentlichkeit damit zu zwingen, den wahren Charakter ihres türkischen Verbündeten einzugestehen.

Es war einmal ein junger Sultan, in den seine Untertanen große Hoffnungen setzten. Schließlich hatte er kluge und reformfreudige Berater. Als dieser Sultan den Thron bestieg, implementierte er eine Verfassung, die allen Bürgern seines Reiches, ungeachtet ihrer Nation, dieselben Rechte zugestand, und konstituierte ein Parlament. Zur Verfassung ließ er sich als kleines Dankeschön für seine Bemühungen – der junge Sultan war wirklich über seinen Schatten gesprungen – eine winzige Zusatzklausel gewähren, die ihm erlaubte, jeden zu exilieren, den er nicht riechen konnte. Dieser Sultan hieß Abdülhamid II., er kam 1876 an die Macht und war fest entschlossen, von der kleinen Zusatzklausel sofort Gebrauch zu machen. So schickte er den Baumeister der Verfassung, Midhat Pascha, ins Exil, setzte die Verfassung aus und zeigte sich als Herrscher auf der Höhe der Zeit, indem er eine Diktatur nach neuester Facon errichtete. Dem kurzen osmanischen Frühling folgte ein dreißigjähriger Winter, den die Bewohner der Türkei als zulüm (Schreckensherrschaft) in Erinnerung haben.

So wie seine liberalen Berater hatte Abdülhamid vom Westen gelernt, allerdings wie man deren aufgeklärte Ideen am besten unterbindet – und zwar vom europäischen Neoabsolutismus des Vormärz. So endete ein Jahrhundert der Reformsultane, das mit Selim III. begonnen, mit Mahmut II. seine Fortsetzung gefunden und in den Tanzimat-Reformen Midhat Paschas ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte. Den säkularen und nationalen Tendenzen konterte der junge Sultan mit einer ebenfalls jungen Ideologie, dem islamischen Fundamentalismus. Er stärkte die muslimische Theologenkaste und nannte sich fortan Kalif. Dennoch igelte er sich in seinen Kitschpalast nach westlichem Vorbild ein, dämmerte in dumpfer Paranoia vor sich hin und ergänzte das gar nicht schmeichelhafte Metonym für sein Reich „Kranker Mann am Bosporus“ durch eine weitere tragikomische Nuance.

Seine Allmachtsfantasien und antiwestliche Rhetorik konnte sich der Sultan nur leisten, weil der Westen, allen voran das British Empire, sich die Reste dieser ineffizienten Reichs-Residue als Puffer gegen den großrussischen Expansionismus hielt. Ökonomisch war diese längst in der Hand englischer und französischer Gläubiger, ein Großteil der Steuerlast floss in den Schuldendienst, und ein nicht geringer neuerdings in einen riesigen Geheimdienst. Bis zu 30.000 Spitzel und an die 5000 Zensoren leistete sich der Sultan. Verboten wurden Shakespeare, Schiller, Tolstoj, Byron, Rousseau und Voltaire, aber auch das beliebte Jugendbuch „Die Schweizer Familie Robinson“, weil deren Dogge auf den Namen Türk hörte. Auf dem Index der Pressezensur standen nicht nur Begriffe wie „Verfassung“, „Freiheit“ und „Gleichheit“, sondern auch „Frühling“ und „Wiedergeburt“. Aus Wörterbüchern wurden die Begriffe „älter“ und „Bruder“ gestrichen, weil der regierende Sultan den Thron von seinem – älteren Bruder – Murat usurpiert hatte, ebenso wie die Formel H2O aus den Chemielehrbüchern verschwand, weil die Zensur dahinter die geheime Botschaft vermutete, dass Abdül Hamid II. eine 0 sei.

Historische Vergleiche haben einen Hang zum Hinken, dieser hinkt aus voller Überzeugung, denn es ist kein Zufall, dass Erdoğans AKP und vor allem der amtierende Ministerpräsident Davutoğlu den Paranoiker Abdülhamid als Visionär und „Vordenker“ ihrer Regierung feiern.

In einer Sache war die amtierende türkische Regierung ihrem visionären Vorbild hinterhergehinkt: Sie hatte zwar Genozide in Syrien unterstützt, aber noch keinen eigenen vorzuweisen. Das sollte sich 2015 ändern. Unter der Herrschaft Adülhamids II. waren allein in den Jahren 1894 bis 96 300.000 Armenier ermordet worden. Seit vergangenem Jahr führt Erdoğan offen Krieg gegen die Bevölkerung, die Zahl der zivilen Opfer geht in die Tausende. Natürlich handelt es sich dabei um keinen ethnischen Konflikt zwischen Türken und Kurden, sondern um die gewaltsame Unterbindung der Überwindung dieses Konflikts, den die Regierung braucht wie die Luft zum Atmen – kein wehrhaftes Türkentum ohne bedrohliches Kurdentum. Bekanntlich wollte die von der gemäßigt linken Kurdenpartei HDP initiierte Regenbogenkoalition aller kritischen und humanistischen Kräfte in der Türkei diese konstruierten Grenzen auf beeindruckende Weise diffundieren lassen. Die Regierung musste die Farben des Regenbogens mit staatsterroristischer Chemie voneinander isolieren: in kurdischen Terrorismus und türkischen Landesverrat.

Erdoğans Streiche wurden durch kein Veto seiner westlichen Verbündeten bislang gedämmt. Als deren Pipelinewart, strategischer Brückenkopf im Nahen Osten und Zurückpeitscher von Flüchtlingen fühlt er sich unantastbar. Auch die deutsche Regierung schwieg nobel zu einem Verbündeten, dessen Untaten keine Nato-Bombardments (denn er ist die Nato), geschweige denn Protestnoten evozieren.

Hier leistete plötzlich Satire einen genialen Coup. Mit Erdoğans Klage hat der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann den türkischen Präsidenten nach Deutschland gelockt und die Omertà der deutschen Regierung gebrochen, indem er diese zwang, zum System Erdoğan Stellung zu beziehen. Dabei tut es zunächst gar nichts zur Sache, dass Angela Merkel Erdoğans Intervention ins deutsche Rechtssystem nachgibt; umso besser, denn das offenbart den Honeymoon zwischen den Verteidigern der westlichen Werte und ihren östlichen Söldnern in seiner ganzen Unappetitlichkeit, gegen den sich die pornographische Zote von Böhmermanns Gedicht harmlos ausnimmt.

Das Gedicht selbst ist in seinem derb-kathartischen Schaf-Fellatio-Humor insofern ein Geniestreich der gut gezielten Beleidigung, weil es genau den Ton trifft, den die bigott-kleinbürgerliche Schicht, welche die Türkei regiert, in ihrer witzlosen Ehre trifft. Als Kollateralschaden wird er jedoch auch in Deutschlands Bierzelten eine neue Mode des Erdoğan-Bashings zeitigen, dessen blökender Schaffickerhumor bloß das spaßkulturelle Komplement zu Erdoğans Humorlosigkeit sein wird. War schon der Song „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ ein satirischer Rohrkrepierer, so zeigt die Jämmerlichkeit des FDP-Anhängers Hallervorden, wie sich die Empörung über die türkische Regierung ins AfD-Segment übertragen lässt und in die beliebte Einsicht mündet, dass aus dem Morgenland ohnehin nicht Gutes komme – weder Täter noch deren Opfer. Hinter der Kritik an Merkels Freundlichkeit gegenüber Ankara versteckt sich auch kleinlaut die Rache für ihre Freundlichkeit gegenüber Flüchtlingen. Ein solidarisches Korrektiv dieser neuen Witzigkeit wäre die vermehrte Publikation von Bildern einer türkischen Cartoonistenszene, die zu den besten der Welt zählt und in diesen Tagen umso mehr zum Lachen reizt, je weniger sie zu lachen hat. Die deutsche Satire hat zwar nicht den wahren Charakter der türkischen Regierung getroffen, aber die Öffentlichkeit gezwungen, diesen wahrzunehmen.

Abdülhamid II. wurde von der Geschichte abserviert, und Erdoğan hat großes Talent, seinem Vorbild auch darin zu folgen. Noch teilt eine relative Mehrheit der Wähler seinen Größenwahn, dank der postmodernen Verquickung von Nationalismus, Islamismus und Osmanismus, die sich so ausnimmt wie mit Döner gefüllte Baklava in Kuttelflecksuppe, aber der nun einmal an alles erinnert, was groß und bedrohlich war an der eigenen Vergangenheit. Jedoch der Appetit darauf könnte den Türken alsbald vergehen, denn der fliegende Teppich der Konjunktur verliert an Höhe, obwohl immer mehr Staatsbürger darauf als Ballast abgeworfen wurden.

Im Vergleich zu den Jungtürken, die Abdülhamid stürzten, sind die „Jungkurden“ erstaunlich wenig national gesinnt, sondern an der Integrität des türkischen Staates interessiert. Ob der Westen aber eine idealistische sozialdemokratische Regierung dulden würde, ist fraglich, totalitäre Regime haben seine Interessen stets effektiver geschützt.

Richard Schuberth, ist Schriftsteller und lebt in Wien. Im Juni erscheint im Klever Verlag sein Buch „Karl Kraus – 30 und drei Anstiftungen“.

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