Wir – die Erdoğan-Komplizen

Leicht ist es, sich bei Massakern wie denen von Ankara betroffen zu fühlen, schwerer schon zu erkennen, worin sie einen wirklich betreffen.

Es wirkt stets ein wenig makaber, wenn Politiker Gräueltaten nicht so toll finden, und mag den wenigen, die sich durch Medienkonsum noch nicht den Sinn für Sprachlogik haben verderben lassen, auch trotz der schrecklichen Anlässe ein bitteres Lächeln auf die Lippen locken.

Selbst der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu hat die Attentate von Ankara verurteilt, freilich nicht ohne den Verdacht nachzuschicken, die PKK hätte ausgerechnet am Tag nach ihrem Waffenstillstandsangebot 100 ihrer angeblichen Sympathisanten in die Luft gesprengt. Auch Erdoğan verurteilte, und schließlich ein westlicher Außenminister nach dem anderen. Der strebsame Sebastian Kurz, der in letzter Zeit durch gar inflationären Gebrauch von Verurteilungen aufgefallen war (Exekutionen in Saudi-Arabien, IS-Gräuel, Messerattacken auf israelische Schüler), pappte neue Schärfe aufs Verurteilungsfließband, indem er das Attentat von Ankara sogar „aufs schärfste“ verurteilte.

Mit ratternder Konsequenz und ohne Unterlass verurteilen sie drauf los, die Politiker, als gäbe es nur irgendeinen Massenmord an Zivilisten, der je zu begrüßen wäre.

Denn ohne potenzielle Zustimmung verliert die Verurteilung jeglichen logischen und moralischen Sinn – und man halte besser den Mund.

Und dennoch: Ich erhebe einen Vorwurf, der so unerhört, so über die Maßen tendenziös klingt, dass er schon einer besonders starken Argumentation bedarf, die ich indes sofort nachliefern werde.

Ich behaupte: Die meisten Politiker, die das Massaker von Ankara verurteilten, begrüßen es. Wie das möglich sei? Rein menschlich finden sie es natürlich nicht zum guten Ton gehörig, doch Menschlichkeit ist die rosa Muttertagsschleife, nicht das Motiv des Politischen. Allesamt repräsentieren sie – so die einfache Grundthese – eine Außenpolitik, die das Ermorden, Einschüchtern und Verfolgen der Zivilgesellschaft in der Türkei nicht nur deckt, sondern aktiv unterstützt.

Selber schuld, ätzten nun hartgesottene Politologen, wenn man das Wesen von Machtpolitik mit deren diplomatischen Rechtfertigungen und ideologischen Bulletins verwechsle und dann auf einmal naiv moralische Doppelstandards erkenne. Natürlich führen NATO, USA und EU Erdoğan das Händchen bei seiner Repressionspolitik, handelt es sich bei der Türkei doch nicht um irgendein Morgenland, sondern um einen wichtigen Handels- und Militärpartner, Garant zum Fluss der Erdöl- und Drosselung der Flüchtlingsströme, zudem „EU-Beitrittskandidat und sicheres Herkunftsland“ (A. Merkel). Zynisch mag diese Einsicht in den Weltenlauf sein, und doch eine wichtige Inspiration für alle, die sich weder mit dessen Unabänderlichkeit abfinden noch auf starke Gefühle zurückgeworfen sein wollen.

Das Blut der Opfer von Ankara spritzt weit, zum Beispiel auf die Carte blanche, welche die USA der Türkei im Juli dafür gegeben haben, kurdische Stellungen in Nordsyrien zu bombardieren. Selbst die „FAZ“ musste erkennen, dass die Türkei gegen den IS einen „Scheinkampf“ führe, „das Hauptziel sind die PKK und die Kurden“, jene Kurden, die in einer der heroischsten Selbsthilfeaktionen der jüngeren Geschichte die Stadt Kobanê samt Umgebung von den Barbaren befreit hatten. Geister sind diese Barbaren, die die USA gerufen hatte und nicht mehr loswurde. Und die Türkei gewährte dem Spuk logistische Unterstützung, wo immer sie nur konnte.

Als bei den Parlamentswahlen im Juni das linke Parteienbündnis HDP überraschenderweise die Zehnprozenthürde überwand und die AKP starke Verluste erlitt, drohte ihre mit allen erdenklichen undemokratischen Mitteln akkumulierte Allmacht zu erodieren. Wer sich in türkischer Politik der letzten 50 Jahre ein bisschen auskannte, wusste, was nun kommen würde. Erdoğan ließ die Koalitionsverhandlungen platzen, um Neuwahlen zu provozieren. Dann musste er schnell handeln: weitere Beschneidung der Pressefreiheit und Öl ins schwelende Feuer des Kurdenkonflikts per militärischer Provokationen. Diese Saat der Zwietracht trug ihm die erwünschte Bluternte ein. Der gesamte Südosten militärische Ausnahmezone, Bürgerkrieg, Ausgangsverbot und Ermordung von Zivilisten durch Scharfschützen der türkischen Armee, Verhaftungen linker und prokurdischer Aktivisten, Aufhetzen des nationalistischen und islamistischen Mobs gegen die Zivilgesellschaft, Bombenattentate wie in Suruç, deren Hintergründe wohl immer unklar bleiben werden. Kein Vertreter des IS hatte sich zu nur einem der dutzenden Anschläge der letzten zwei Monate bekannt. Am Sonntag schließlich verkündete Davutoğlu als vertrauensbildende Maßnahme die Verhaftung des Attentäters von Suruç, eines gewissen Abdurrahman Açıkgöz. In einer Pressekonferenz nach dem Ankara-Massaker wurde der Ministerpräsident vom HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş nonchalant der Lüge überführt: Jener Abdurrahman Açıkgöz, verriet Demirtaş,sei seit 77 Tagen tot, da es sich um den Selbstmordattentäter selbst handle.

Ganz gleich ob hinter den Morden islamistische Einzeltäter, der „tiefe Staat“ oder diverse Geheimdienstzellen stehen, dem Vorwurf der Verschwörungstheorie haftet bei diesen alltäglichen Einschüchterungspraxen selbst etwas Verschwörungstheoretisches an. Erwiesen ist, dass die Demonstration durch keinerlei Sicherheitskräfte geschützt war, diese aber schnell zur Stelle waren, um Rettung und Helfer zu blockieren und gegen die Überlebenden mit Tränengas und Wasserwerfern vorzugehen. Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat der Türkei (RTÜK) verhängte sofort eine Nachrichtensperre über jegliche das Attentat betreffende Berichterstattung. Böse, wer Böses denkt dabei.

Der Westen unterstützt dieses Regime nach vollen Kräften, und westliche Medien dessen Spaltungspolitik, indem sie nicht müde werden, die HDP als „prokurdische“ Partei zu bezeichnen und damit jene Propagandalüge wiederkäuen, kraft der die AKP versucht, den Demokratisierungsprozess zu ethnisieren. Zwar entstammen weite Teile des Parteienbündnisses dem prokurdischen Spektrum, doch bemüht es sich explizit um eine Regenbogenkoalition aller humanistisch, sozial und antinational gesinnten Menschen, gewährt der Gezi-Park-Bewegung ebenso Obdach wie gemäßigten Muslimen, Alewiten, Gewerkschaften und Schwulen. Im Sinne der Türkei als politischer Nation agiert keine Kraft integrativer, ja türkischer als die HDP. Was für ein kapitaler Dorn im Auge der AKP!

Prokurdisch war auch die Kundgebung in Ankara nicht, wie diverse Medien behaupteten. Die HDP, Gewerkschaftsverbände sowie die Architekten- und die Ärztekammer, auch die Republikanische Volkspartei (CHP) hatten zu einer Demonstration für den Frieden aufgerufen. Eben diese sozialen, zivilen und transethnischen Allianzen sind es, die die künstlich am Leben erhaltene Kluft zwischen Türken und Kurden, eine unschätzbare Machtbasis, subversiv untergraben und deshalb mit aller struktureller, aber auch unmittelbarer Gewalt aufgedröselt, zerstreut und eingeschüchtert werden müssen.

Vordringliches innenpolitisches Ziel Erdoğans ist es, die HDP bei den bevorstehenden Parlamentswahlen unter die Sperrklausel von zehn Prozent zu drücken, um sich die parlamentarische Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu kredenzen, die er für die lange avisierte autoritäre „Präsidialdemokratie“ bräuchte. Danach würde er hochtönend den „Friedensprozess“ fortsetzen. Die Kurdenfrage ist das Allerletzte, um das es hier geht – es geht darum, die soziale und kulturelle Transformation der Türkei sowie die Überwindung konfessioneller und ethnischer Gräben zu verhindern, auch im Interesse der Partner und Investoren aus Washington und Brüssel.

Hätten die Außenminister der EU-Staaten in den letzten Monaten nur ein Wort der Zurückweisung jenes pogromartigen Krieges gefunden, den Erdoğan gegen die türkisch-kurdische Zivilgesellschaft, gegen das eigene Volk führt, die offizielle Trauer über die Toten von Ankara würde weniger lächerlich ausfallen.

Die ermordeten Demonstranten in der Türkei betreffen uns unmittelbar, weil sie für etwas ihr Leben ließen, das wir bereits und noch zu haben glauben. Ihrer zu gedenken hieße, endlich aufzuhören, betroffen auf die Barbarei zu glotzen, die wir in unsere Peripherien ausgelagert zu haben glauben, und zu erkennen, dass auch der Firnis unserer Zivilisation allmählich schmilzt – denn diese wurde nicht vom Weihnachtsmann geschenkt, sondern entweder unter großen Opfern der Macht abgetrotzt oder durch diese den Marginalisierten abschmarotzt. Letzteres – den kardinalen Schönheitsfehler jener Zivilisation – versuchten die Opfer von Ankara zu korrigieren, schuldig sind wir ihnen, die politischen und ökonomischen Komplizen ihrer Mörder – hüben wie drüben – beim Namen zu nennen.

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