Mit dieser merkwürdigen Interpretation des 20. Artikels des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland fühlen sich einige Zeitgenossen ermächtigt, eine wie auch immer geartete Legitimation für ihr Handeln zu erlangen.
Betrachten wir den aktuell vorgelegten Verfassungsschutzbericht des Freistaates Bayern, so wurden im Jahr 2015 vierundsechzig Übergriffe auf Asylunterkünfte registriert. Die Amadeo Antonio Stiftung verzeichnet für das vergangene Jahr bundesweit achthundertvierundsechzig antisemitische Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches. Das bedeutet jeden Tag über zwei Straftaten in diesem Segment.
Frage ich Sie nun, liebe Leserinnen und Leser, wie denn diese Täter aussehen, so könnte es sein, dass vor Ihrem geistigen Auge ein glatzköpfiges, mit Springerstiefel drapiertes und dumpf grölendes Persönchen entsteht, das sich zumeist im Rudel versteckt oder auf andere - auch im Schutze der Dunkelheit heimtückisch übergriffig wird. Das mag als Klischee teilweise taugen und auch zutreffend sein, dennoch wäre es zu einfach, es dabei zu belassen.
Zurecht hat der Historiker Wolfgang Benz in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel im vergangenen Jahr darauf verwiesen, dass das Gefahrenpotential weit komplexer ist. Anzunehmen, es würde sich bei den geistigen Urhebern um verblödete Dumpfbacken handeln, wäre fatal. Männlich und gut gebildet, so lässt sich der geistige Urheber ausmachen, der den Bogen zur Pegida schlägt.
Diese scheinbar intellektuell nach außen initiierte Phrasendrescherei brachte die Leitkulturdiskussion des vergangenen Herbstes in den Fokus der Debatte. Unter dem Denkmäntelchen der Flüchtlingsthematik etablierte sich eine zutiefst befremdliche Debatte um einen neu entstandenen Kulturrassismus.
Neben der Leitkultur wurde das "christlich abendländische" bemüht. Die dabei verwendete substanzlose Phrase "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" ist in mehrerlei Hinsicht verräterisch und falsch .
Zum einen, vereinnahmt sie Menschen in Europa, die für sich entscheiden haben, ich freue mich, dass ich Franzose, Deutscher oder Österreicher bin. Ich freue mich dafür, dass mein Land ist, so wie es ist = Patriotismus im weitesten Sinne. Ohne an dieser Stelle eine Bewertung vorzunehmen.
Zum zweiten wird der "patriotische Europäer"in den Ring geworfen. Eine Vereinnahmung einer beträchtlichen Anzahl von Bewohnern eines Kontinentes, die sich in keinster Weise einig sind.
Betrachtet man die Wahlergebnisse in Europa von AfD, Wilders oder Le Pen, so könnte man dies als zweifelhaften Achtungserfolg sehen. Doch dem ist nicht so. Zum einen sind diese Ergebnisse alles andere als eine Mehrheit (25 % Le Pen stehen 75% Nicht Le Pen gegenüber oder 15% AfD Regionalwähler stehen 85% Nicht AfD Wähler gegenüber) und zum anderen relativieren sich diese Ergebnisse, wenn wir das Wahlergebnis im Kontext zur Wahlbeteiligung in den einzelnen europäischen Staaten sehen und die Wählerwanderungen sehen.
Alles gut könnte man sagen? Wohl kaum. Welche Schlussfolgerung kann daraus gezogen werden? Dass es in allen Parteien - als Querschnitt der Bevölkerung – ein hohes Potential an rechtspopulistische Rassisten gibt ?
Mit nichten. Wahlforscher, Politologen und auch Historiker sind sich in weiten Teilen einig, dass sich hier ein enormes Frustpotential entlädt. Der deutsche Finanzminister hat dies vor Kurzem mit den Worten "Globalisierung trifft auf Realität" treffend gekennzeichnet.
Und in der Tat können wir feststellen, dass die Globalisierung zur Entwurzelung und teilweisem Identitätsverlust des Einzelnen mit allen uns bekannten sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat.
In der Betriebswirtschaft neutral zum "Produktionsfaktor Mensch" degradiert, sind Unternehmensstandorte und damit Arbeitsplätze ein potentielles Mittel der Erpressung gegenüber der Politik. "Wollt ihr Steuern und Arbeitsplätze, dann schafft die Rahmenbedingungen". Lokal und global. Ob wir dann dennoch Steuern zahlen, das entscheidet eure Gesetzgebung. Und damit wir mit.
Der ehemalige Staatspräsident Israels Shimon Peres (92) bilanzierte vor Kurzem nüchtern: "Die Politik wird von der Wirtschaft regiert. Wir müssen uns mit ihr an einen Tisch setzen und zukunftsfähige Lösungen zu suchen." Eine bitterböse pauschale Schlussfolgerung eines alten Mannes? Beileibe nicht. Realistisch und konstruktiv gleichermaßen.
In der chinesischen Kriegsführung lautet die analoge Variante: "Kannst du deinen Gegner nicht besiegen, so verbünde dich mit ihm". Wie fatal dies ist erleben wir tagtäglich.
Sehr gerne betrachten wir in der politischen Diskussion Vorgänge, Entscheidungen, Wahlergebnisse und Panama Papers an sich isoliert. Schauen wir auf den FIFA Skandal, so haben wir schnell die Schuldigen. Blicken wir in die Panama Papers, so ist klar wer Verfehlungen begangen hat und auch in der Flüchtlingsfrage ist Merkel oder in der Causa Erdogan die Satire oder Erdogan - je nach Blickwinkel - als Stein des Anstoßes auserkoren.
Nun so frage ich Sie, liebe Leserinnen und Leser : Wie viele Teile eines Puzzle benötigen Sie, um ein Gesamtbild zu erhalten? Reicht die Hälfte, reicht ein Achtel oder müssen es 100% sein. Die Frage an sich ist leicht zu beantworten.
Nun, woher bekommen wir diese 100% ? In dem wir unsere Meinung mit anderen gleichen Meinungen multiplizieren und der festen Überzeugung sind, dass unser ganz persönliches Puzzle entsteht und dies das Richtige ist ?
Ja doch, es ist sicherlich einfacher auf Vegetarier, Schwule und Radfahrer oder Feministen einzudreschen, wie dies vor Kurzem der polnische Regent getan hat, um seine ungarische Variante von Erdogans Gnaden zu installieren.
Und ja, was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Weder auf dem Teller noch im politischen Alltag.
Vielmehr Chuzpe erfordert es, seinen eigenen Standpunkt permanent auf Richtigkeit zu überprüfen um abzuwägen was daran richtig oder falsch sein könnte. Denn dies setzt voraus, dass eine freiheitliche, liberale und pluralistische Denkweise keine Gefahr sondern eine einmalige Chance für uns alle ist. Gesetzt den Fall, man(n) respektive Frau sieht sich diesen Werten verbunden.
Zuweilen werden die Rechte unserer Demokratie (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc.) dazu verwendet, um den anders Denkende mundtot zu machen oder ihn zu diskreditieren. Die Paradoxie "par exellence".
Sehr großzügig nehmen manche diese Rechte einer freiheitlich demokratischen Grundordnung in Anspruch, um selbige leise, schleichend und brutal, diktatorisch und faschistisch aus dem Weg zu räumen. Genügend Beispiele lassen sich ebenso finden.
Und ja, es hat einen triftigen Grund, warum die SPD auf 20% stürzt und ein Gabriel sich hinstellt und Andersdenkende zum Beispiel wie in Davos wie im Falle von TITIPP öffentlich in die Pfanne haut. Unabhängig davon, welche persönliche Meinung man zu TITIPP oder zum Schutz von Wistleblower hat.
Und es ist hierbei keine Frage von Gabriel und der SPD oder Seehofer und die CSU. Es ist eine Frage der abhanden gekommenen politischen Kultur, Streitkultur und des fehlenden politischen Anstandes. Zweifellos eine naive Forderung von mir.
Und wenn wir in aller hitzigen und zuweilen unsachlichen Alltagsdiskussion auf andere zeigen, so sind diese andere fallweise auch wir selbst.
Nein, es sind nicht nur die Erdogans, die Putins oder die Orbans. Diese Herrschaften agieren im offenen Rampenlicht und führen auch den Halbblinden und Gehörlosen die Gefahr vor Augen.
Unser Augenmerk sollte sich auf diejenigen richten, die subtil und klangheimlich versuchen Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, demokratische Grundstrukturen oder Pluralismus indirekt oder ohne Umwege in der Versenkung verschwinden zu lassen.
Betrachten wir die Nullzinspolitik, betrachten wir die Absicht Bargeld abzuschaffen, betrachten wir die Absicht Transparenz mit vorgefertigten Sprechblasen zu verhindern, dann ja, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, warum wir dort angekommen sind, wo wir angekommen sind.
Und warum Menschen, die ansonsten im Karnickelzuchtverein ihr friedliches Alltagsdasein führen plötzlich zu Ku Klux ähnlichen Figuren mutieren.
Wenn in Frankreich oder wie auch gegenwärtig in Deutschland ein Gesetz für oder gegen die Prostitution in die Gesetzgebung kommt, sollten damit nicht nur die Damen und Herren des einschlägigen Gewerbes bedacht werden, sondern auch manche von denjenigen, die bei ihrem Amtseid die Formulierung murmeln "den Nutzen mehren und Schaden vom Volke abwenden" .
Lange habe ich über diese Formulierung nachgedacht bis ich die Frage des "cui bono" - wem zum Vorteil" klären konnte. Und geht man diesem "wem" nach so stößt man auf eine alte Weisheit in der Ermittlungsarbeit "Folge des Spur des Geldes und du findest die Täter".
Und dann? Um nicht missverstanden zu werden. Es gibt in den Parlamenten eine Vielzahl von anständigen Männern und Frauen, die sich redlich und untadelig bemühen ihrem Amtseid Folge zu leisten.
Doch die Bremser im Hinterzimmer, die Fraktionszwängler und andere Figuren die in den Hinterhöfen des Politikbetriebs ihr Schattendasein führen, sanktionieren dies mit Abstrafung, Nichtbeachtung oder auch öffentlicher Diskreditierung.
Kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Alle Gewalt geht vom Volke aus? Nein. Mitnichten.
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Die Verfassung und nachfolgende gesetzliche Regelungen bilden also den Rahmen in einem demokratischen Kontext mit Wahlen und demokratischen Spielregeln.
Es bedeutet nicht, dass eine grölende Minorität eine passiv konsumierende Spaßgesellschaft dominieren darf.
Ebenso wenig bedeutet es, dass auch wenn sich Rechtspopulisten eine verfassungsändernde Mehrheit aneignen würden Absatz 4 des 20 Artikels des Grundgesetzes nicht mehr Geltung hätte.
"Demokratie lebt vom Streit, von der Diskussion um den richtigen Weg. Deshalb gehört zu ihr der Respekt vor der Meinung des anderen." Richard v. Weizsäcker
Richard Krauss