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In letzter Zeit häuft sich in den Aussagen von Politikern der Begriff „Realpolitik“, wann immer es darum geht, die politisch verfahrenen Situationen zu erklären. Realpolitik scheint die ultimative Rechtfertigung für fragwürdige politische Entscheidungen geworden zu sein.
Beispiel EU-Türkei: Unser Herr Mitterlehner hat sich kürzlich in einer Diskussion im ORF zur Aussage hinreißen lassen, dass der Deal zum Flüchtlingskonflikt getrennt von der Erfüllung der Zugangsrichtlinien für den EU-Beitritt gesehen werden müsse. Obwohl die Türkei politisch immer mehr zu einer totalitär geführten „Bananenrepublik“ verkommt, deren menschenrechtliche Grundsätze im krassen Widerspruch zu den Werten der EU-Länder stehen. Dennoch gesteht man der Türkei zu, die Visa-Pflicht in Kürze zu beenden und die Beitrittsverhandlungen voranzutreiben.
Beispiel EU-Gesetze vs. nationaler Interessen: „Wer deine wahren Freunde sind, weißt du erst in der Not!“ Entweder als EU-Mitgliedsland mitbeschlossen oder beim Beitritt zur EU anerkannt, hat jedes Mitgliedsland diesem Regelwerk als Ergänzung zu seiner nationalen Rechtsprechung zugestimmt. Unter der Belastung der Flüchtlingskrise wollen die meisten Länder auf die eine oder andere Art jetzt nichts mehr davon wissen. Lediglich „genehme“ Paragraphen werden zum Schutz der eigenen Interessen verbogen. Egal, ob es um die Aufteilung der Flüchtlingsströme geht oder um das Dublin-Abkommen (das nie für so eine extreme Situation konzipiert war), wenn Schuldzuweisungen an Schengen-Grenzländer verteilt werden, weil sie nicht die erforderlichen Maßnahmen treffen, die Flüchtlinge beim Eindringen in den EU-Raum zu hindern. Wie sie das bewerkstelligen sollen, bleibt diesen Ländern überlassen, auch wenn dazu Gewaltmaßnahmen erforderlich sein sollten. In den Kernländern der EU macht man sich da nicht einmal verbal die Finger schmutzig.
Beispiel EU-USA: Das transatlantische Handelsabkommen TTIP ist zwar angesichts der aktuellen Problematik nicht im Fokus der Öffentlichkeit, sollte aber dennoch gebührlich Beachtung finden. Denn die Verhandlungen finden auf weitgehend geheimer Basis statt, wodurch es für die EU-Bevölkerung zu einem unangenehmen Erwachen kommen könnte, da es sich hierbei um „Knebelverträge“ handelt, die lediglich zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen der USA gedacht sind. Doch wo immer Geld im großen Stil gemacht wird, kommt die Moral bei der Entscheidung zu kurz. Deshalb ist das TTIP von öffentlichem Interesse und sollte von der Bevölkerung mitgetragen werden.
Beispiel EU-Iran: es nur zu verständlich, dass ein Wirtschaftsraum wie der Iran, dessen Menschen jahrzehntelang vom Welthandel weitgehend abgeschnitten waren, der Nasstraum eines jeden Handeltreibenden ist. Wirtschaftstreibende aus der ganzen Welt drängeln sich an den Handelspforten zum Iran und wollen sich ein Stück vom Kuchen holen. Und unsere Politiker stehen mit in der Schlange, um den Unternehmern ihres Landes politisch den Weg zu ebnen. Doch das sanfte und gutmütige Lächeln von Präsident Rouhani darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Iran noch immer die Scharia gilt und auch streng gehandhabt wird. Auch wenn Frauen im Iran mehr Rechte und Freiheiten genießen, als zum Beispiel in den arabischen Nachbarländern, ist das Land noch weit davon entfernt, einen auch nur annähernd säkularen Weg einzuschlagen.
Dies sind nur einige Beispiele der aktuellen „Realpolitik“. Unzählig sind die Beispiele in Finanzwelt, Umwelt und vielen anderen Bereichen. Im Kleinen wie im Großen. Politik, die mit ihrer eigentlichen Verantwortung bricht, beispielgebend und unbeugsam Träger von Moral und Ethik zu sein und diese nicht auf dem Altar des Kapitalismus als Opfer darzubringen. Die politische Verpflichtung (im Wortsinn) erstreckt sich heute nicht mehr nur über die direkt anverantwortete Gemeinschaft, sondern darüber hinaus, in einem globalen Konsens das Wohlergehen der Bevölkerung zu sichern.
Als Völker sind wir für unsere Politik verantwortlich. Wir wählen Menschen aus unseren Reihen, um ihnen politische Verantwortung aufzuerlegen. Eine Verantwortung, die nicht unsere persönlichen Wünsche befriedigen soll, sondern das Wohlergehen der Gesellschaft sicherstellt. Wir als gesellschaftliche Individuen partizipieren an diesem Prozess, in dem wir unseren Beitrag zur Aufrechterhaltung leisten. Politische Entscheidungen sind daher nicht immer mehrheitsfähig oder bequem. Lassen wir es jedoch zu, dass Politik zum Kuhhandel verkommt oder gar zum „Pakt mit dem Teufel“ wird, werden wir zwangsläufig Teil der Problematik, statt deren Lösung zu sein.