Krieg 21.0 – Türkisches Konfliktpotential

[Krieg 21.0 ist eine Themenreihe rund um die Geschehnisse des Syrienkonflikts.]

Ist der Syrienkrieg an sich schon zu einem großen Problem für die Welt(-politik) geworden, setzt der Anrainerstaat Türkei noch eins drauf.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu regieren die wohl nur noch Pseudodemokratie zu nennende Türkei zunehmend in eine weltpolitische Ausnahmesituation. Verfolgt man die internationalen Schlagzeilen der vergangenen Monate, spricht man mittlerweile wohl eher schon von einem Sultan samt Großwesir und einem Sultanat nach osmanischem Vorbild. Der feudalherrschaftliche Cumhurbaşkanlığı Sarayı (Präsidentenpalast, 2014 fertiggestellt) unterstreicht dieses Bild deutlich.

Despotisch autoritäre Willkür in Innen- wie Außenpolitik prägt den türkische Alltag. Der Privatkrieg Erdoğan‘s gegen die Kurden, quasilegitimierte Attentate gegen friedliche HDP-Demonstranten und ein tödliches Ressentiment gegen den Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi, sowie die Verhaftung von zwei Erdoğan-kritischen Redakteuren und generell restriktive Vorgehensweisen gegen türkische Medien und Regierungskritiker – sind nicht nur wenige Peaks der aktuellen Berichterstattung, sondern eine klare Unterdrückung der Pressefreiheit und eine grobe Verletzung von Menschenrechten.

Weit schwerer wiegen jedoch die Grenzverletzungen im syrischen und irakischen Territorium, wenn die Türkei dort illegal militärische Einheiten stationiert. Eine Grenzverletzung, die man selbst einem „Verbündeten“ im Krieg gegen den IS zur Last legte, und als Rechtfertigung zum Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs heranzog, weil dieses angeblich den türkischen Luftraum verletzte. Verschärft wird diese Aktion natürlich noch durch die einerseits strikte Uneinsichtigkeit einer ausufernden Präsidialmacht, die Chuzpe, sich zu diesem Vorfall auch noch des Rückhalts der NATO versichern zu wollen, obwohl und letztendlich die tatsächliche, aber eigene Grenzverletzung, das russische Kampfflugzeug über syrischem Territorium abgeschossen zu haben, einen Kriegsgrund mit Russland herausgefordert hat. Glücklicherweise ist Putin ein besonnener Mensch, der die Türkei vorerst einmal mit wirtschaftlichen Sanktionen abstraft. Aber auch hierzu reagiert die Türkei falsch, da man ihrerseits nun selbst Sanktionen gegen Russland prüft.

Immer konkreter werden auch die monatelangen Vorwürfe gegen die Türkei, den IS teils aus religionsideologischer Sicht, teils aber auch einfach aus trivialen wirtschaftlichen Interessen heraus, finanziell (z.B. durch illegalen Ölhandel), mit Waffen und dem Durchschleusen von willigen Kämpfern zu unterstützen.

Das Verhalten der Türkei gegenüber der EU gleicht hingegen einem Bazar-Handel. Im Bestreben ein EU-Mitgliedsstaat zu werden, zeigt sich in der Flüchtlingskrise nun eines der wahren Gesichter der Türkei. Mit annähernd 2 Mio. Flüchtlingen im Land, kann auf die EU massiv Druck ausgeübt werden. Von einem Wegfall der Visa für türkische Staatsbürger und milliardenschwerer Finanzhilfe ist hier die Rede. Handelspolitischen Erleichterungen und Themen, die sehr wahrscheinlich öffentlich gar nicht erst zur Sprache kommen.

Unter den vorgenannten Aspekten sind Partnerschaften mit der Türkei unter dem jetzigen Regime bis auf weiteres wohl mehr als fraglich anzusehen und besonders bestehende Verpflichtungen zu hinterfragen. Wie beispielsweise ein NATO-Bündnis, das man angesichts der von der Türkei heraufbeschworenen Kriegsgefahr auf unbestimmte Zeit suspendieren sollte, und selbstverständlich den EU-Beitritt, selbst wenn dies aus europäischer Sicht wirtschaftlich erhebliche Nachteile nach sich ziehen sollte. Denn im Falle eines EU-Beitritts der Türkei, würde sich sehr wahrscheinlich zum jetzigen Flüchtlingsstrom noch ein Schwall türkischer „Wirtschaftsflüchtlinge“ über Europa ergießen. Nicht zu vergessen die Flüchtlingsquotenregelung und die Reise-, Niederlassungs- und Arbeitsplatzfreiheit innerhalb der EU. Der ohnehin angeschlagene Ruf der EU würde dann eine galoppierende Inflation erleben.

Statt die türkische Politik noch weiter durch Verlockungen zu bestätigen, wäre eine klare Distanzierung notwendig. Es Russland gleichzutun und selbst Sanktionen gegen die Türkei zu errichten, wäre nur der nächste Schritt zu einer glaubwürdigen EU-Politik.

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