Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen… SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Kapitel 31, Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, Leipzig 1917, S. 1157
Man kann jeden Satz zur Rechtfertigung seiner eigenen Beschränktheit missbrauchen, aber dadurch heben sich die Schranken nicht auf. Vielmehr sehen wir das ganze neunzehnte Jahrhundert damit beschäftigt, die Schranken der dichotomischer Betrachtungsweisen zu überwinden. Schranken und Hürden werden so mobil wie der Mensch selbst. Mit dem Pferd verschwindet auch das Joch als realer Gegenstand und als Metapher. Allerdings darf man sich den Fortschritt nicht linear vorstellen, als einen sanften Hügel, auf dessen Spitze der Olymp wartet und das Ende der Geschichte. Hegel, dem wir das so ausgearbeitete Fortschrittsmodell verdanken, wohnte am Kupfergraben, während Schopenhauer um die Ecke in der Dorotheenstädtischen Straße versuchte, der hegelschen Dominanz dadurch zu entgehen, dass er seine Vorlesungen auf den gleichen Zeitpunkt legte. Da konnte man nun hören, dass der Mensch nicht zu seinem Glück geboren ist. Nur wer von einer solchen Glücksvorstellung ausgeht, und sei sie auch nur am Ende des Berges erreichbar, wird die Welt voller unüberwindbarer Widersprüche finden. Und was ist dann leichter, als zu einfachen Gegensatzpaaren zurückzufinden.
Schopenhauer und später auch Nietzsche sind als Zeitgenossen missverstanden worden. Nietzsche verdankte diesem Missverständnis seinen Ruhm und seinen Wohlstand als Bestsellerautor. Beide fanden sich in den Tornistern der Leichen von Langemarck und Verdun. Aber beide meinten nicht, dass es zwischen den Eigentlichen und den Übrigen eine Entscheidung oder gar eine Entscheidungsschlacht geben würde oder auch nur geben könnte. Unter den Eigentlichen, von Schopenhauer Genie im Sinne des Sturms und Drangs seiner Lehrer genannt, von Nietzsche gar Übermensch, sein Vater, der schwächliche Pfarrer schwärmte vom preußischen Leutnant als gewissermaßen gezüchteter Idealfigur, verstanden die beiden wohl eher den fitten Leser.
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Sowohl Fitness als auch Bildung durch Lesen sind unendliche, universale und multiple Tätigkeiten. Man ist zwar Leser, aber jeder Leser weiß von der unendlichen und jeden Tag wachsenden Menge Lesestoff. Mit jedem neuen gelesenen Buch erschließen sich tausend ungelesene. In jedem Buch steckt eine ganze Welt. So wie der Leser vor einem Berg Wissen, Deutung und Erzählung steht, so muss der Sportler jeden Morgen neu anfangen, seinen einerseits perfekten, andererseits nie fertigen Körper zu trainieren und zu formen. Jeder Dorfschullehrer weiß, wie schwer die beiden zu vereinen sind. Schopenhauer und Nietzsche haben sozusagen die letzte Elite beschrieben, um sie zu überwinden.
Der neue Mensch ist nicht zu konstruieren, schon gar nicht im Rückgriff auf die Vergangenheit. Die Beschränkungen sind zu durchbrechen oder wenigstens mobil zu gestalten, wie eine Bahnschranke, auch sie ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Allerdings müssen wir mit dem Unglück leben, das wir uns selbst geschaffen haben, indem wir als Ideal das Unendliche sehen, nicht das beschränkte Endliche.
Es ist völlig unverständlich, wie die Partei der Staatsgläubigen und Zeitungszitierer sich ausgerechnet auf Schopenhauer und Nietzsche berufen will, die das Gegenteil dessen waren, was jene anstreben. Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen, schreibt Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit, ist der Nationalstolz. Er ist das Substitut einer gewesenen oder nie gewordenen Persönlichkeit, das Glück der Beschränkten. ‚Jede Nation spottet über die andere, und alle haben Recht.‘ Das schlimmste Unglück ist es aber, nicht weiter zu lesen. Die meisten berühmten Zitate haben eine Fortsetzung: Ein Deutscher, schreibt Nietzsche, ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut. Doch dann fährt er fort: denn er gehorcht, wo er kann.** Er gehorcht den Regeln und Führern, den Traditionen und Gesetzen, den Vätern und den Müttern; und wenn der Schutzmann sagt: gibs auf!***, dann trollt er sich in sein selbst verschuldetes Gefängnis. Und diesen hässlichen Deutschen gibt es überall auf der Welt. Aber es gibt, zum Glück, wenn schon nicht glücklichmachend, auch Schopenhauer .
*Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Leipzig 1918, V, 6
** Nietzsche, Morgenröte, § 207
*** Kafka