Neunter Beitrag zu einer Theorie des Instabilbaukastens
Gut, Gundermann war jünger und fand Zimmermann schon in seinem Liederbuch vor, als er lesen lernte.
Es ist ganz sicher ein glücklicher Umstand, wenn man in eine Emanzipationsbewegung globaler Größe wächst. Zimmermann spielte für die damaligen Größen Woody Guthrie oder Pete Seeger, die uns heute als seine bloßen Vorläufer erscheinen, Mundharmonika, ehe er selbst als großer Künstler wahrgenommen wurde. Von da bis zum Literaturnobelpreis ist es weiter als von Hoyerswerda auf den Olymp. Aber schon 1963 sang Zimmermann vor 500.000 Menschen auf dem Marsch nach Washington, Martin Luther King hielt eine nicht weniger weltwichtige und weltberühmte Rede.
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Im Osten lasen wir mehr Brecht als Kafka. Brecht ist sicher ein großer Dichter, aber ein großer Teil seiner Weltdeutung ist Antwort: Wer baute das siebentorige Theben? Was wie eine Frage aussieht, ist weniger als eine Antwort. Es ist vielmehr die rhetorisch und poetische geschickte und schöne Verwirklichung einer Ideologie. In Wirklichkeit ist die Idee des Hauses weitaus bedeutsamer als die Tätigkeit des Maurers und der Maurer selbst. Die Idee der Pyramiden rechtfertigt nicht die Opfer ihres Baus, aber überschattet sie. Die Opfer erhalten nachträglich einen Sinn als Mitträger einer großen Idee, die auch nach zweieinhalbtausend Jahren noch wirksam ist. Besser wäre es natürlich, Ideen ohne Opfer zu verwirklichen, aber das ist wohl noch niemandem gelungen. Brecht war für uns die perfekte Übereinstimmung zwischen größtmöglicher Poesie und hundertprozentiger Übereinstimmung mit dem System. Daran änderte auch sein Gedicht über den 17. Juni nichts, in dem er vorschlug, dass die Regierung sich doch ein anders Volk wählen sollte. In der Zeitung stand an diesem Tag sein unterwürfiger Brief an Walter Ulbricht. Dieser Brecht, dem es um Übereinstimmung ging, wurde Vorbild für uns alle, aber auch für Gundermann und Biermann, der auch später im Westen immer so weiterdichtete. Wir waren Epigonen.
Gegen diese Verherrlichung und Kultur der Antwort dichtete der Mundharmonika spielende Weltstar sein weltberühmtes Lied, in dem nur der Wind die Antwort weiß, wir dagegen noch nicht einmal die Fragen wissen. Nie sind wir Teil einer Bewegung oder Gruppe, die gewinnen kann. Es geht nicht um das Gewinnen. Fast jede Idee verkommt zur Ideologie. Fast jede Ideologie spaltete sich immer wieder auf in neue Gruppen, die alle die eine richtige Antwort haben, die von Wahrheit schwafeln statt Fragen zu stellen. Und: der Wind ist noch weniger als niemand. Sobald wir den Hauch einer Antwort in Händen zu halten glauben, fliegt er weg, vergeht wie Rauch im Wind, wie schon der Barockdichter Johann Matthäus Meyfart dichtete und später Paul Celan in einen grausigen Zusammenhang stellte. Die Aufklärungstraditionslinie der Antwort übersah die kafkaeske Fragestellung: kann es sein, dass jemand, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, in einem Prozess verurteilt wird? Da wo ausnahmsweise die Antwort auf der Hand lag, wollten wir sie nicht wissen. Kafka passte nicht, der Fortschritt widersprach dem Käfer.
Der zweite große Unterschied mag die Isolation Gundermanns sein, die ihn zu einem Opportunismus trieb, der sich hinterher leicht verurteilen lässt. Opportunisten sind wir alle und müssen es auch sein. Aber man muss auch sehen, dass ein isoliertes System, das um sich herum eine Mauer gebaut hat oder baut, zu noch mehr Opportunismus aufruft, weil der Weg versperrt ist. Die amerikanische Gesellschaft, so oft sie auch polarisiert war, bis hin zum Bürgerkrieg, war doch immer, und vielleicht ist das sogar ihr Ideal (gewesen?), offen für die Emanzipation ihrer Teilnehmer. Bis zum Exzess war es in Amerika möglich, Antwortideologien zu betreiben. Man konnte einen Afroamerikaner aufhängen und verbrennen und ihm die Finger abhacken, damit er sich nicht befreien kann und noch Postkarten über diese ungeheuerliche Schandtat verbreiten*. Und man kann immer noch einen afroamerikanischen Jugendlichen erschießen, ohne bestraft zu werden**. Aber man kann auch seinen Einberufungsbefehl verbrennen und anschließend Präsident werden. Man kann auch mit Protest- und Emanzipationsliedern weltberühmt werden. Der Unterschied der Orte - auch der Epochen - besteht wohl darin, ob man sich Emanzipation als eine Gewährung von Rechten oder eine Eroberung von Pflichten und Rechten vorstellt. Die Mittelalterlichkeit solcher Gewährungsideologie mag sich an dem Beispiel der Ketzerkinder verdeutlichen. Unter emancipatio canonica verstand man im Mittelalter die Inobhutnahme der Kinder der gekillten Ketzer durch die Klöster. Das gleiche maßte sich aber auch der schweizerische Staat in bezug auf die Kinder der Jenischen an, die DDR in bezug auf die Kinder der Staatsfeinde oder Republikflüchtigen, dies auch die authentischen Wörter.
Der ganze platte Antiamerikanismus greift nicht, wenn nicht immer 'Blowing In The Wind' mitgedacht wird, was aber nicht geht, weil er sich dann selber - mitsamt seiner monokausalen Antwort - infrage stellen müsste. 'Blowing In The Wind': that's America but better, um die kanadische Alternativwerbung zu persiflieren (denn zitieren ist immer auch persiflieren oder camouflieren). Mit seiner Weltmachtstellung wird Amerika auch sein emanzipatorisches Vorbild einbüßen, auch den Übernamen. In hundert Jahren werden wir statt Amerika USA sagen müssen und ein Land meinen, von dem weder Schrecken noch Vorbild ausgehen. Wir müssen uns aber auch nicht vor einer neuen Weltmacht ängstigen. Es gibt keinen Kandidaten. Wir streben nach Emanzipation und nicht nach neuen Herren, und der Anteil von Robert Zimmermann an diesem Streben war größer als gedacht und gewollt.
Es gibt immer weltweit ein oder zwei Dutzend Menschen, die das Automobil oder die Nichtantwort in einem Lied erfinden könnten. Talent haben viele. Jede Coverband hat mehr Talent. Es ist auch nicht so, dass man in Unfreiheit nicht über Freiheit singen könnte. Andererseits können auch Epigonen viel Geld verdienen. Was die Welt voranbringt, ist eben nicht ein bestimmtes Rezept, eine einfache oder komplizierte Antwort, ein Grund, der alles oder nichts erklärt, sondern das Beharren auf der Irrationalität der Dinge und Menschen. Der Traum weiß mehr als dein Gedächtnis. Der Traum ist beharrlicher als jeder Plan. Er lässt sich nicht einsperren oder beseitigen, nicht diskreditieren oder beleidigen. Der Traum ist der Traum ist der Traum...schon Gertrude Stein ist für diesen wunderbaren und grundeinfachen Gedanken verlacht worden, und doch kennt ihn jeder.
Und deshalb hatte es der arme Gundermann mit seinen schönen Zeilen so schwer.
* Jesse Washington † 1916, erstes Waco-Massaker
** Trayvon Martin † 2012