WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD? *
Es ist schwer vorstellbar, dass Beethoven Weihnachten gefeiert hat. Weihnachten beginnt auch erst so richtig im neunzehnten Jahrhundert. Trotzdem gibt es einen Anhaltspunkt: die sechste Sinfonie. Von der Natur haben wir ähnlich veridyllisierte Vorstellungen wie von Weihnachten. Das hängt mit unserer Kindheit und den dort entstandenen Idealen zusammen. Weihnachten erschien uns, als wir Kinder waren, nicht als diese völlig mit überflüssigen Geschenken und viel zu vielem Essen überladene Freizeit. Weihnachten war (und ist?) für Kinder ein mystischer Ort und eine mystische Zeit. Aus dem Lied nur kennen wir das Gehämmere des Vaters an den neuen oder rekonstruierten Spielzeugen, die dann im Licht der Stearinkerzen erstrahlten.
Lichter und Weihnachtsbäume gehören allerdings zum heidnischen Inventar, das sonst von der Kirche gern als unstatthaft denunziert wird. Wir dagegen lehnen den Begriff des ‚Heiden‘ ab, weil wir uns fragen, warum ausgerechnet diejenigen Menschen, die die Natur noch als Unbill und Heil erlebten, unspiritueller gewesen sein sollen als wir mit unserem Assekuranzdenken. Wer unsere Vorfahren als ‚Heiden‘ oder anders beschimpft, hat wohl kein Verständnis für Höhlen- und Felsmalerei entwickeln können.
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Und alles, was zwischen Höhlenbildern und Weihnachten liegt, wird in der auch Pastorale genannten Sinfonie geschildert.
Wie in einem Roman, der ebenfalls in dieser Zeit aufkam, entwirft Beethoven hier in einem Gemälde wie von Pieter Brueghel einen Schnitt durch Ort und Zeit. Die Natur verkam zu dieser Zeit zum Ort des Ausflugs, was auch ein metaphorisches Wort für die Scheinidentifikation des Menschen mit der Natur war. Man wanderte – lebensmäßig – in die Städte ein, am Sonntag aber aus den Städten in die Natur, aber vielleicht doch mehr in die Ausflugslokale. Beethoven reiht sich hier ein in die, vor allem romantischen, Beschreiber des Rousseauschen ‚Zurück zur Natur‘, das ja nur zeigt, wie weit sich die europäisch-nordamerikanische Menschheit schon von der Natur entfernt hatte.
Rousseau war es auch, der alle bisherigen Theorien vom Menschen als bloße Distanzierung von der und Erhebung über die Natur entlarvte. Sein missgünstiger Kollege Voltaire schrieb ihm daraufhin, dass er, seit er das las, glaube, auf allen Vieren gehen zu müssen. So groß war der Abscheu selbst hochgebildeter Aufklärer vor der einfachen Tatsache der Gleichheit, die Gleichartigkeit wie die daraus folgende Gleichberechtigung meint, nicht eine geistige oder körperliche UNIFORMIERTHEIT. Jede Herabsetzung und Verächtlichmachung dieser Gleichheit beruht auf UNINFORMIERTHEIT.
Das ist der wahre Grund, warum es keine eigentliche rechte Theorie gibt: man kann Uninformiertheit nicht aufschreiben. Von Graf Gobineau über den unsäglichen Houston Stewart Chamberlain bis hin zu Oswald Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘, der wenigstens noch in seiner Loserfantasy wortgewaltig zu schwelgen verstand, von Kubitschek als bloßem Nachplapperer zu schweigen, steht in den Büchern mehr oder weniger nichts, nichts, das wir nicht schon wüssten und entweder aus gutem Grund abgelehnt hätten oder das sich selbst in sinnlosen Kriegen verzehrt und ausgelöscht hätte.
Der zweite Weg, uns von der Natur zu entfernen, ist unsere Ernährung, der Brühwürfel als Metapher und Inbegriff zwar ausreichender, aber naturferner und substituierter** Sättigung. Justus von Liebig und Julius Maggi haben zwar einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers geleistet, Liebig sogar doppelt durch die elementare Düngung, aber gleichzeitig auch zur Industrialisierung der Landwirtschaft und damit der Natur. Heute stellen pervertierte Landwirte Kreuze in die Landschaft, die sie unter ihren Feldern nicht mehr erkennen, nicht etwa um auf das Artensterben hinzuweisen, sondern auf die Minderung ihres Profits. Das Christentum hat scheinbar nicht nur die Deutungshoheit über Weihnachten und Ostern verloren, sondern auch über das makabre Symbol des Kreuzes.
Die mechanische und chemische Einwirkung auf den Boden hat seither in automatischen Maschinen, die Mälzels Schachautomaten schon von der Funktion her in den Schatten stellen, gigantische Ausmaße angenommen. Man könnte, um den Begriff der Megamaschine aufzugreifen, der geschaffen wurde, um zu erklären, wie riesige Steine zu Megalithgräbern aufgehäuft werden konnten, von einer solchen gigantischen Maschine sprechen, die sich anschickt, global alles zu vernichten, über und unter dem Wasser- und Erdspiegel. Wir werden Beethoven nicht missbrauchen, um in die Partei des Dystopien, der sich selbst als realistisch bezeichnenden Untergangs- und Loserfantasien einzutreten, im Gegenteil wollen wir auf den selbstverschuldeten Werteverfall hinweisen, der sich aus der Lösung der gravierenden drei Probleme der Menschheit ergab: Hunger, Krieg und Pest.
Der Jubel über das Überleben übertönte sie Sorge über den möglichen Untergang nicht etwa des Abendlandes, sondern aller Länder. Es bleibt, nebenbei bemerkt, völlig unverständlich, wie man angesichts solcher schwerwiegenden Probleme annehmen kann, dass das völlig in Problemen und Ruinen versunkene Morgenland sich anschicken könnte, das Abendland zu usurpieren. Weder wird es irgendeine Religion noch einmal zur Weltherrschaft schaffen noch ein Land, das nicht kann als seine eigenen Bewohner in Gefängnisse zu stecken und die Erde ohne Rücksicht auf ihren Verlust auszubeuten.
Beethoven konnte das alles nicht wissen, als er 1808 seine sechste Sinfonie schrieb, aber er wusste, was Hunger ist, weshalb sein kleines Lied von dem hungrigen Savoyarden mit dem Murmeltier genauso eindrücklich ist wie seine romanhafte Beschreibung der Natur. Aber er beschreibt keine Idylle, sondern ein Ziel: zurück zur Natur. Wir können nicht glauben, dass die Entwicklung immer größerer und immer naturfernerer Megastädte etwas anderes sein kann als steingewordene Dystopie. Umgekehrt ist die sechste Sinfonie klanggewordener Jubel über die Vielfalt und Schönheit der Natur. Sobald man sie geldwert umrechnet, wird sie selbst zum Feind: fünfzig Millionen Küken werden jährlich in Deutschland geschreddert, Millionen Ferkel ohne Betäubung kastriert, ein Kalb kostet im Moment neun Euro, ein anderthalbjähriger Zuchtbulle dagegen 100.000 €. Das ist alles Ausdruck widernatürlicher Gier und Perversion von uns allen, die wir nicht zurückfinden können zur Natur des Menschen, der irgendwo in der Natur liegen muss. Aber vielleicht ist das auch schon eine Dystopie.
*Brief an Struve 1795
**durch Hilfsstoffe wie zum Beispiel Geschmacksverstärker ersetzt