Man hätte Deutschland so vereinigen sollen, dass der Osten den Westen domestiziert, aber auch wieder so, als wenn er selber schon der Westen gewesen wäre. Und den Kaptalismus sollte man einfach mit menschlichem Antlitz gestalten. Du gehst in dein Kaufhaus, nimmst dir, was du brauchst, die Kassiererin sagt: schon gut. Auch dein Arbeitgeber winkt müde ab: bleib zuhaus. Da hinten steht Götz Werner und winkt mit 1000-€-Scheinen.

Schon in der DDR, als sie noch gar nicht wackelte, gab es diesen Trend: Neckermannreisen und Sozialversicherungsausweis. Der spätere Gysi-Trick: die neue Partei mit dem alten Vermögen. Immer mehr Nichtrentner konnten im Laufe der achtziger Jahre in den Westen reisen, und sie berichteten, dass dort in Bochum einerseits die Hölle herrsche, andererseits das Paradies. Und genau so empfanden viele – wahrscheinlich andere – die DDR UNSER HEIMATLAND, so die arhythmisch-rhythmische Variante der FDJ-Sprechchöre, wenn irgendwo ein Politbüromitglied herein getragen oder geschoben wurde.

Die bestgepflegten Greise hatten erreicht, wovon sie früher geträumt hatten. Damit muss man gar nicht das Jagdschloss in Wolletz oder das graue Einfamilienhaus in Wandlitz meinen. Sie hatten die Macht. Das war ihr Fetisch. Andererseits ignorierten sie jedes Problem, also glaubten sie ihre Bevölkerung nicht nur wohlverwahrt, sondern auch wohlversorgt. Im GUNDERMANNfilm gibt es diese berüchtigte Begegnung mit Werner Walde, dem Cottbuser Bezirkssekretär, die das zeigt: was wollt ihr denn, ihr habt doch alles, die Schwierigkeiten kommen von außen.

Dieses Erklärungsmuster ist uns geblieben. Irgendjemand muss immer schuld sein. Die Ikone des linken Vereins mit dem schönen proletarischen Namen Wagenknecht tritt immer wieder damit an: Schuld an der Misere sind die Konzerne, ist der kalte Kapitalismus. Die Misere muss erst herbeigeredet werden. Die Gegenüberstellung lautet ja nicht Hartz IV oder unter der Brücke schlafen, und Hartz IV gibt es keinesfalls nur im Osten, sondern auch besonders schlimm in Bochum. Die Gegenüberstellung Wagenknechtscher Prägung lautet: ob es nicht erniedrigend sei, von den Jobcenterbeamten sanktioniert zu werden. Ihre Antwort auf diese Frage lautet immer gleich: Banken enteignen. Unsere gemeinsame Antwort sollte aber sein: Ja, es ist demütigend, besser ist es arbeiten zu gehen. Die Wagenknechtsche Konstellation scheint zudem davon auszugehen, dass alle Menschen im Osten Hartz IV beziehen, besonders die Rentner. Aber weder die Rentner in ihrer Gesamtheit noch der gemeine Ostmensch sind arm. Sie sind – statistisch gesehen – etwas ärmer als ihre, wie man leider nur früher sagte, als wir noch geteilt waren, Schwestern und Brüder im Westen. Gemessen an ihrer eigenen Vergangenheit sind sie aber viel, viel reicher, auch reicher als ihre Schwestern und Brüder jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

Man hätte die Wiedervereinigung nicht besser oder auch nur anders gestalten können. Nur selten in der Geschichte kann etwas aktiv und bewusst, rational und vielleicht noch dazu demokratisch ‚gestaltet‘ werden. Meist passiert die Geschichte, weil zuviele Faktoren zu einem Ereignis beitragen, sagen wir (wie immer) 1000 und nehmen wir einen besonders guten Politiker, sagen (wie immer) Willy Brandt. Dann kann er ein Zeichen setzen, niederknien, eine neue Ostpolitik wagen, nach Erfurt reisen. Aber er konnte – leider, leider – nicht dafür sorgen, dass sein schöner Spruch JETZT WÄCHST ZUSAMMEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT, der uns damals allen das Wasser in die Augen trieb, schneller als, sagen wir, in hundert Jahren verwirklicht werden kann.

Dass am 1. September 1939 alle Menschen in Deutschland, besonders die Männer, aber vor allem auch die Frauen, Mütter, Schwestern, Verlobten, Freundinnen, Krankenschwestern, gesagt hätten: NEIN, NICHT SCHON WIEDER, ist genauso unwahrscheinlich, wie dass alle Menschen an einem Tag ihr Geld als Bargeld von der Bank abholen. Soviel Geld gibt es nicht, soviel Einigkeit gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal eine Schulklasse in Deutschland, die einstimmig beschließt, die Klassenfahrt nach Lloret de Mar zu machen. Wie Geschichte wirklich funktioniert, konnte man viel besser am 9. November 1989 sehen: ein Staat (und nicht ein Land oder eine Heimat) brach zusammen, weil irgendwelche Tattergreise die Zettel verwechselten oder ihre Schlaftabletten nicht finden konnten. Der Staat ist nichts als die Büroklammer einer Gesellschaft.

Es gibt Länder mit enteigneten Banken, es gibt Länder ohne nennenswerte Industrie, es gibt Länder mit Regierungen, die ihre Politik besser erklären als die Bundesregierung MERKEL IV. Aber keines dieser Länder ist insgesamt erfolgreicher. Die USA und China haben größere Volkswirtschaften als Deutschland, aber will wirklich eine signifikante Menge Menschen aus Deutschland dorthin wechseln? Ich erinnere nur an den erschossenen Austauschschüler aus Hamburg. Da ging es um eine Büchse Bier. Auch wenn es mir immer wieder Kritik einbringt: China ist weder die gewünschte noch die tatsächliche Zukunft der Welt. China wird einfach untergehen. Saudi Arabien ist gerade dabei.

Ein funktionierendes und wohlgefälliges Staats- und Gesellschaftssystem (schon das Wort ‚System‘ klingt zu sehr nach Konstruktion) wächst ganz langsam. Das Projekt der deutschen Einheit braucht hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre. Schon vor der deutschen Teilung gab es ein statistisches Gefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West. In den ostpreußischen oder uckermärkischen Dörfern gab es vor hundert Jahren Armut, in Bochum dagegen Wohlstand. Gerechtigkeit ist ein Ideal, genauso wie Freiheit, dennoch nehmen sie real in der Gesellschaft zu. Flaschensammler gab es schon in der DDR, man kann bezweifeln, dass sie nur ein Armutszeugnis sind.

1989 waren wir alle überfordert. Ein winziger Fehler hatte zu einem politischen Erdrutsch geführt. Jeder war auf seine Weise desorientiert. Der Kalte Krieg war zuende, die Sowjetunion brach in sich zusammen, Grenzen verschwanden, Völker wanderten ein- und aus. Aber heute verlangen Unrealisten, dass die damaligen Politiker schon damals gewusst hätten, was wir selbst heute nur erahnen können: Zusammenhänge, Netzverflechtungen, Strömungen, Einflüsse. So ungern man es (immer wieder) sagen muss: der Koloss Kohl war ein Pragmatiker der Macht und als solcher der richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Der Schwachmatiker Lafontaine dagegen hat zurecht alle Wahlen verloren. Wahrscheinlich ist sein Anteil am Untergang der deutschen Sozialdemokratie größer als sein Rache- und Geltungsbedürfnis. Seine Gattin Wagenknecht, mit dem schönen proletarischen Namen und dem rosa Luxemburgkleid, radelt auf ihrem 10.000-€-Fahrrad durch das arme Saarland und überlegt, was man im Osten noch zur Misere erklären könnte. Auch sie hat eine Partei in den Ruin gestürzt. Das alles ist weder schade noch traurig: jegliches hat seine Zeit. Traurig ist, dass im Osten Deutschlands nicht nur das Erklärungsmuster gleich geblieben ist, sondern auch die Parolensucht. Eine Parole müsste doch irgendwann einmal richtig sein, glaubt man hier. Politik im Osten ist ein bisschen wie Lotto: man tippt immer die selben Zahlen (Parolen) und verliert.

Statt dessen gilt: Im Lotto kannst du nichts gewinnen, mit einem Lächeln kannst du alles gewinnen. Liebe Mitschwestern und Mitbrüder im Osten: lächelt. Seid doch endlich einmal froh, dass es keine Grenzen mehr gibt, aber dafür Baumärkte (reißt endlich eure alten Schuppen ab!), dass ihr ein gutes Auto habt, ein Haus, eine freundliche Wohnung (selbst die einst grauen Plattenbauten leuchten in vielen Kleinstädten), freut euch, dass ihr nach Mallorca reisen könnt, aber fahrt bitte auch einmal woanders hin. Seid stolz und nicht wehleidig. Baut Leuchttürme statt Tränenteiche und Jammertäler! Lest Heine!

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884

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pirandello

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