Wenn die Großstadt und das Wetter zusammenstoßen, erscheint es uns oft wie ein Weltuntergang. Dagegen versinkt die Großstadt nur in jener Umwelt, die sie auch ohne die Millionen Menschen wäre. Die Spatzen, Rehe und Wölfe, die früher hier lebten, erlebten auch die Inkommodität des Schneesturms. Aber sie waren nicht so viele, sie hatten keine Lobby, sie waren von Gott verlassen. Der Schneesturm hinderte an diesem Tag selbst die Kanzlerin Deutschlands, rechtzeitig zur Eröffnung der Elbphilharmonie nach Hamburg zu kommen. Wo früher die Rehe und Wölfe waren, ist jetzt das Einsteinufer, das man vor lauter Schnee kaum erkennen konnte. Ein graues Hochhäuschen, im Stil dem Anbau des Rathauses Wedding nicht unähnlich, ist vom Einsteinufer aus gesehen das Portal in die Welt der Mathematik und Informatik. Endlose Gänge, herauskopiert aus science-fiction-Filmen der sechziger Jahre, Automatiktüren, wenige Menschen, diese in sich versonnen und verschlossen. Man läuft mit dem Klischee im Kopf mit dem Kopf durch die offenen Wände. Tatsächlich gibt es keine bessere Metapher für die Offenheit der Gesellschaft, die einerseits ihren Ursprung zweifelsfrei in Jean Jacques Rousseaus Gedanken, andererseits ebenso zweifelsfrei in der Visionswelt John von Neumanns hat, als die Gänge und Übergänge, die Fenster, beinahe möchte man sagen windows, und sich von Zauberhand öffnenden Türen in einem Mathematikgebäude. Man kommt sich in dieser unwirklichen Welt wie Harry Potter und das verwunschene Kind vor, der Twitter als Zauber entlarvt, der keiner ist.

Das Äußere des Gebäudes verblasste an diesem Tag im Schneesturm, hat aber auch sonst schwer zu kämpfen gegen die Siegessäule, gegen die verblichene Königin Sophie Charlotte und den legendären Ernst Reuter, der aber auch lange nach Werner von Siemens kam, der nicht nur das Telefon, damals noch mit ph, als Kommunikationsmittel verbreitete, viele vergessen, dass dieses kleine Berlin, in dem noch vor kurzem die Wölfe am Einsteinufer heulten, der Beginn einer gigantischen technischen Umwälzung war, sondern auch die U- und die Straßenbahn mit Elektromotoren erfand und in die Geschichte losschickte, der irgendwie verlassen den Gebäudekomplex zu bewachen scheint; er hatte hier Vorlesungen gehalten. Von außen wirkt das Gebäude also wie eine ins Unscheinbare abgeglittene Mikroutopie. Innen finden es die angehenden Mathematiker, Informatiker und Ingenieure, die aber alle Siemens als Vorbild haben, etwas veraltet. Nun gibt es aber kaum ein Institut, vielleicht vom Elektronenbeschleuniger der Hamburger Universität abgesehen, in dem schneller gedacht wird, demzufolge die Dinge auch schneller veralten. Tatsächlich ist die Innenarchitektur, die man mit drei Strichen nachzeichnen kann, keineswegs veraltet. Sie ist vielmehr eine Bestandsaufnahme der Industriegesellschaft. Rote Rohre geben die Begrenzungen, Geländer und fast den gesamten Schmuck ab. Ein Dubai der Petrolchemie ist hier vorweggenommen, ein Spiegel und eine abgekürzte Chronik der Ruhrgebiete und Liverpools und Lothringens, insofern auch eine gesamteuropäische Wallonie, in der aber Zahlen produziert werden. Und diese Omnipräsenz der Industrie ist es, die unseren mathematischen Vordenkern wie eine abgelebte Vergangenheit vorkommt. Es fehlt nicht viel, und die Industrie der Rohre und Schlote scheint genauso lange her zu sein wie das Einsteinufer mit seinen heulenden Wölfen und flüchtenden Rehen. Das zweite Element ist sogar eine architektonische Vorwegnahme: nämlich Sichtbeton, von dem der finnische Architekt Pekka Einari Salminen sagt, dass er der Naturstein des einundzwanzigsten Jahrhunderts sei. Aus Sichtbeton bestehen hier anachronistische Alkoven, kleine Amphitheater und offene Gänge wie in der Kölner Philharmonie. Sie sind verspielt, aber nicht veraltet. Aber können wir wissen, wie diese Schnelldenker und Zukunftsplaner, die hier in babylonische Gespräche vertieft sind, fühlen? Nicht nur der Architekt muss eine Mitte finden zwischen Zeitgeist, Tradition und Zukunft. Schnell sind wir mit dem Urteil zur Hand, aber die Entscheidung liegt in den Tiefen der Jahrhunderte. Erst wenn ein Gebäude Jahrhunderte überstanden hat, können wir es groß oder klein nennen. Das gleiche gilt für Texte, Bilder, Musik, in Zukunft auch für Filme. Form follows function ist hier keinesfalls der Verzicht auf Zierrat. Davon zeugt auch das dritte Element, die Unzahl von Aluminiumlampenschirmen, die insofern inzwischen ein metaphorischer Witz geworden sind, als es in den Büros eine Unzahl von Bildschirmen gibt, ja das ganze Leben der Menschheit sich von den Lampenschirmen ab- und den Bildschirmen zugewandt hat. Form follows function heißt bei so einer dynamischen Institution wie der alten Charlottenburger Technischen Hochschule, der heutigen weltberühmten Technischen Universität, aber auch Abriss. So wird es wohl auch hier sein, weshalb ein Requiem benötigt wird, dessen Name – Ruhe – für Gebäude aber untauglich ist. Der drohende Abriss ist auch noch aus einem anderen Grund mehr als bedauerlich, hatten doch die Architekten einst versucht, mit einer fast ganz gläsernen Südfassade ökologische Vorstellungen vorwegzunehmen, Menschen wie Pflanzen in ein Glashaus zu setzen und dem Klima höchst schädliche Klimaanlagen zu verbannen. Dass ausgerechnet im kalten Deutschland, durch das die Schneestürme und Wölfe heulen, der Sommer ein Problem für diesen wunderbaren Versuch darstellte, ist bedauerlich. Aber Mathematiker sind nicht die einzige Sorte Mensch, die man nicht beauftragen kann, jeden Abend auf das Thermometer zu sehen und für die notwendige Nachtauskühlung die Fenster zu öffnen. In dem Moment sehen wir aus dem Fenster, draußen steht Siemens, der den Elektromotor nicht nur für Straßenbahnen dachte. Kann er uns unterstützen, nachts die Fenster zu öffnen und damit dem Bau und seiner Idee zum Fortbestehen verhelfen?

Dem Zeitgeist zu widerstehen heißt ja nicht nur, durch den Schneesturm mit Sandalen zu gehen. Ein Balance aus Funktion und Tradition ist schon schwer genug. Die bildliche Vision zum Beispiel eines Schiffes muss die Elbphilharmonie mit dem Gesundbrunnencenter teilen, einer Mall für eher Arme. Wer sich über Kosten aufzuregen angewöhnt hat, solle, nebenbei bemerkt, sich klarmachen, dass die achso teure Elbphilharmonie, ein Palast des Wohlklangs und der Bildung, gerade einmal so viel gekostet hat, wie ein Kriegsschiff (Fregatte vom Typ F125) oder zehn Eurofighter. Aber auch die Balance aus Funktion und Vision ist schwerer herzustellen, als man im ersten Moment glauben mag. Auch Visionen können sich nur aus Bildern der Welt, wie sie ist, speisen. Gebäude sind eher wie Fotografien ein erstarrter Moment, nicht ohne Dialog, aber ohne substantielle Fortentwicklung. Natürlich passt sich ein Haus seinen Bewohnern oder Nutzern an, aber sein Fundament sollte es lieber nicht antasten. Selbst Raum und Klang kommen, wie in der Elbphilharmonie, nicht sofort überein, brauchen den Dialog, den Kompromiss, das taktile Feingefühl. Überhaupt sollte man mit voreiliger Kritik vorsichtiger umgehen. Viele Dinge und Gedanken erschließen sich erst spät, manche sogar erst, wenn sie bereits vergangen sind.

Was hatte ich eigentlich im Mathematikgebäude zu suchen? Nichts, ich hatte die vergessene Brotbüchse eines Zahlenmagiers und Visionärs gefunden und sie ihm gebracht. Kinder sind das beste, was man machen kann.

Das Mathematikgebäude der Technischen Universität Berlin wurde von Georg Kohlmaier und Barnabas von Sartory (1927-2000) entworfen, der hier in einem kleinen Dorf begraben liegt und an den ein Kunsthof erinnert.

siehe auch baunetz vom 25.11.2015

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sisterect

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