[getan ist was du tust nicht was man dir tut]

Von der türkischen Wanderung können wir nur einen Bruchteil sehen: der über Istanbul hinaus bis Westberlin, München, Frankfurt, Wolfsburg reichte. Jene weitaus mehr Ostanatolier, die in Istanbul blieben, wurden Istanbuler, die anderen wurden Berliner, Frankfurter, Hamburger. Der angebliche Mangel an Integration ist eine Wahrnehmungsverzögerung. Solange die indigene Bevölkerung (die um 1960 auch alles andere war als indigen) die sogenannten Gastarbeiter als Gäste sah, konnten diese sich auch als Gäste fühlen. Das änderte sich nicht durch das Eingreifen der Politik, sondern durch die Wirkung des eigenen Verhaltens, die Gastarbeiter bekamen Kinder, die Eingeborenen lernten die Verkaufskultur der neuen Gemüseläden schätzen. Fast gleichzeitig mit diesem komplementären Verhalten der beiden nicht homogenen Gruppen kamen der Behaviorismus aus Amerika und die Verhaltensbiologie aus Wien. Man hätte wissen können, was man jetzt weiß, aber man weiß es erst jetzt: die Menschen sind so, wie sie sich verhalten, nicht wie sie sich verhalten möchten oder verhalten sollten. Das heißt nicht, dass es keine Ideale oder Imperative gäbe, sondern dass das Verhalten der ersten Gruppe nicht weniger normativ für die zweite Gruppe ist als das Verhalten der zweiten für die erste. Hinzu kommt, dass es selten nur zwei aufeinander treffende Gruppen gibt. In den fünfziger und sechziger Jahren wirkten sich das Hollywood- und Rock'n'Rollverhalten, verstärkt durch die tatsächlich anwesenden Amerikaner, und das der französischen und italienischen Nachbarn ebenfalls prägend aus. Überhaupt gab es im Westen Deutschlands den vorsichtigen Beginn der Globalisierung, kommentiert und gebremst durch Nazirichter und einige rechtskonservativen Politiker. Auf der anderen Seite standen aber Willy Brandt, Heinrich Böll und Günter Grass. So hat eine ganze Generation Salingers Fänger im Roggen in der Übersetzung von Böll gelesen. Vergleichbare Leitbilder gab es im Osten nicht, auch der kulturelle Austausch blieb hier marginal. Immerhin können die meisten älteren Ostbürger wenigstens eine andere Schrift deuten.

Die Frage also, ob das Essener Busexperiment, wenn es in fünfzig Jahren unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt wird, im Ergebnis gleich bleibt, kann man positiv beantworten, wenn auch ohne jede Garantie. Allerdings muss man die Naivität der Frage durch ein großes ALLERDINGS bremsen. Fünfzig Jahre gelten seit Goethe und Kondratieff als eben jene Mittelfrist, in der sich Basisinnovationen und Verhaltensweisen so grundlegend ändern, dass die Welt ausgetauscht erscheint. Wir hatten deshalb den Honeckersatz vom Januar 1989 als unfreiwillige Karikatur dieses Austauschs ansehen können. Allerdings muss man sagen, dass die Berliner Mauer eher eine Metapher oder Marginalie als ein tatsächliches gravierendes Ereignis war. Man muss sie nur in Beziehung setzen zu den wirklich großen Innovationen dieser Zeit: der Atombombe als letztes Waffensystem, dem Computer als Modellierung und Mobilisierung der Welt und Automobil und Flugzeug als größter Mobilitätsschub der bisherigen Geschichte.

Wenn man in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren durch bestimmte Straßen von Offenbach, Rüsselsheim oder Kreuzberg ging, sah man das deutscheste Verhalten: tausende von Männern putzten ihr Statussymbol - auch das Wort kam damals auf - und ihre Mobilitätsmetapher - denn in Wirklichkeit gingen sie zur Arbeit um die Ecke -, den 123er Mercedes, mit dem sie in die Heimat fuhren, die ihnen durch ihre Kindheit tränenfeucht nah war, durch ihre Kinder aber immer rationalpragmatisch ferner wurde. Das Putzen des Mercedes war also kein nationales oder rationales Verhalten, sondern vom Mercedes, vom Sozialstatus, vom Zeitgeist vorgegeben. Wir werden es noch erleben, dass das Zweite Fahrradzeitalter alle in Europa lebenden Stadtbewohner erreichen wird, egal, wo ihre Großeltern gelebt hatten.

ALLERDINGS widersetzt sich das Leben allen Berechnungen. Das Gegenteil des Lebens ist Kalkül. Einen Tod kann man berechnen, wie Franz von Moor es tat, aber das Leben folgt komplexeren Bedingungen. Deshalb wäre es unsinnig, Gutes zu tun, um Gutes zu erhalten. Do ut des - gib damit dir gegeben wird - ist ein Rechts- oder Vertragsprinzip. Eine Hand wäscht die andere ist ein ironischer Spruch bestenfalls aus dem Alltagsleben. Aber eigentlich beschreibt er Korruption. Schließlich ist das zwar auch aus dem Volksmund kommende, dann aber in die Spieltheorie übergegangene tit for tat bestenfalls eine Strategie, die im Spiel oder im Gefängnis aufgehen kann. Sie erkennt schon das Wesen und das Fundament des menschlichen Handelns: die Kooperation, die sich evolutionär aus dem Pflegeverhalten ergeben hat. Wir können nicht ohne Pflege überleben. Es ist immer wieder schwer zu erkennen, dass damit nicht vor allem die Pflege gemeint ist, die uns angetan wurde und wird. Als Kind wissen wir noch, wie beschämend es ist, auf Hilfe angewiesen zu sein. Wir versuchen, uns aus der mütterlichen oder väterlichen Fürsorge, die zunehmend als Klammerung empfunden wird, zu emanziperen. Aus dem protecting wird allzuschnell und allzuleicht overprotecting. Und das hat einen ganz einfachen Grund: es bereitet Freude und Genugtuung, zu geben und zu helfen, zu beschützen und zu pflegen, zu retten, zu bewahren und wiederzubeleben. Alles Leben ist Renaisssance.

Dem widerspricht nicht wirklich, dass es Situationen gibt, in denen Egoismus sich wie ein schwarzer Schatten vor die Kooperation schiebt, durch Todesangst zu Beispiel. In der schlimmsten Schiffskatastrophe aller Zeiten überlebten vier Kapitäne und tausend Männer, es starben neuntausend Frauen und Kinder. Aber der zweite dreißigjährige Weltkrieg ist eben kein Modell des Lebens und das Leben ist eben kein Krieg aller gegen alle. Wenn alle Metaphern wörtlich zu nehmen wären, gäbe es keine. Eine Hand wäscht die andere, aber nicht deshalb. Getan ist, was du tust, nicht, was man dir tut.

Wir dichten da nicht: wir rechnen.

Aber damit wir rechnen können,

hatten wir zuerst gedichtet.

Friedrich Nietzsche

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