Fünfundsiebzig Jahre nach dem letzten großen Krieg sprechen die Enkel und Urenkel immer noch die Sprache der Täter, ihrer Ahnen, obwohl sie deren Ziele und Taten verurteilen, ablehnen und schon lange nicht mehr nachvollziehen können.
Dabei ist der Streit um den Antisemitismus höchst aktuell, nicht nur, weil es erneut antisemitische Gesinnungen gibt, die Taten ermutigen und erlauben, sondern weil es inzwischen auch andere Menschengruppen in unserer Gesellschaft gibt, die ausgeschlossen und angegriffen werden. Sowohl die Angreifer als auch die Angegriffenen sind kleine Minderheiten, vielleicht deshalb glaubt eine große Mehrheit, schweigen zu dürfen.
Den Begriff und die Vorstellung der schweigenden Mehrheit zu Rechtfertigung erfand der irrationale Amtsvorgänger von Trump, Richard M. Nixon, auch Tricky Dick genannt. Nixon hat es mit seinen üblen Tricks nicht geschafft, die amerikanische Gesellschaft zu entdemokratisieren. Man kann optimistisch sein, dass es auch Trump nicht schaffen wird, sicher ist es nicht.
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Die Sprache der Täter ist sicher nicht die Ursache für Angriffe auf Menschen, und die meisten europäischen Länder sind in einem Maße sicher und lebenswert, das im Kongo oder in Honduras, wo pro Jahr und auf 100.000 Menschen bezogen achtundfünfzig Mal mehr Menschen durch Mörderhand sterben, unvorstellbar ist. Trotzdem ist es merkwürdig, dass wir es nicht lassen können, nach Rechtfertigungen für die Untaten unserer Vorväter ausgerechnet bei ihnen selbst, den Tätern zu suchen.
So heißt es noch heute: diese Menschen wurden ‚aus rassischen Gründen‘ ermordet. Vielleicht schleppen wir diese Formulierung schon seit den ersten Nachkriegsjahren mit uns herum, aber das rechtfertigt sie nicht. Es gibt keine ‚rassischen Gründe‘, weil es keine Rassen und keine Gründe gibt, Menschen zu töten. Die Juristen schlagen für dieses Phänomen einen Sammelbegriff vor, nämlich ‚niedere Beweggründe‘, zu den Mordmerkmalen zählen noch das Naziwort ‚Heimtücke‘ und die sehr relative ‚besondere Grausamkeit‘. Aber alle diese Begriffe sind besser als die ‚rassischen Gründe‘, die selbst das Bundespräsidialamt benutzt.
Wenn wir uns in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhundert zurückversetzen, dann sind die damals lebenden Menschen insofern entschuldigt, als dass sie in der Schule lernten, dass es drei verschiedene, auch qualitativ differente menschliche Rassen gibt. Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass er im Lexikon nachsieht, um zu überprüfen, ob das, was der Lehrer sagt und an den Schautafeln im Klassenzimmer steht, auch wirklich gut ist. Hätte er jedoch im Meyers Konversationslexikon von 1907 nachgelesen, so hätte er zumindest eine differenziertere Sicht gefunden. Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass er in der Bibel nachliest, ob das, was seine Lehrer sagen, wenn schon nicht wissenschaftlich haltbar, so doch moralisch unanfechtbar ist. Weder im alten noch im neuen Testament gibt es ausdrückliche Segregation.
Der Satz des Kain ‚Soll ich meines Bruders Hüter sein‘ bezieht sich zwar in der Geschichte auf einen leiblichen Bruder, aber die Geschichte steht symbolisch für die neolithische Revolution, meint also den jetzt gefährdeteren Mitmenschen. Yesus hat nicht nur alle Menschen, die er kannte, für gleich erachtet, sondern Gleichnisse dafür geliefert, so das vom barmherzigen Samaritaner, das einem ganzen Berufungszweig den Namen gab (Samariter), oder das von der Ehebrecherin, in dem er sich zu einem der größten Sätze der Moralgeschichte aufschwang.
Die ständige Betonung der Herkunft ändert nichts an der in allen Religionen und Philosophien betonten Gleichheit der Menschen. Die Menschen unterscheiden sich, ‚nur von Seiten ihrer gründe nicht‘, könnte man einen der großen Gedanken der Aufklärung hier anwenden. Was ist die Form einer Nase (oder was Sie wollen) gegen einen Gedanken oder gegen die seit altersher überlieferte Gastfreundschaft. Diese Gastfreundschaft ist doch die freundliche Aufnahme eines unbekannten Menschen auf die Vermutung und Gewissheit hin, dass er ein Mensch wie du und ich ist. Der urbane Mensch hat diese Spontanfreundschaft auch auf domestizierte Tiere übertragen. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Kindchenschema entdeckt. Jetzt wissen wir, dass die böse Wölfin unser Baby versorgt, das wir im Wald liegenließen.
Die Betonung der Herkunft dient sehr oft als Rechtfertigung für das Böse. Deshalb ist es nicht besonders praktikabel, dass wir zwar das Wort ‚Rasse‘ geächtet, ‚Rassismus‘ aber beibehalten haben. Den Gebrauch der Worte kann man nur schwer ändern, das ändert nichts an der Weisheit des Laotse, dass das Übel in den Worten seinen Ursprung hat. Mein Vorschlag für die Ablösung von ‚Rassismus‘ ist das etwas sperrige Segregation, das sowohl im anglophonen Raum als auch in der Wissenschaft schon lange verwendet wird. Für das Gegenteil, die empathische Gleichstellung aller Menschen, die oft mit der Zerschlagung ihrer Ketten einherging, bietet sich das historische Wort Abolitionismus an, das man englisch und lateinisch aussprechen kann und das ursprünglich die Befreiung der Sklaven meinte, dann aber überhaupt die Befreiung der Menschen. Man ist noch lange nicht frei, lässt Lessing sagen, wenn man seiner Ketten spottet.
Nicht ganz so grundlegend ist die sprachliche Rechtfertigung des Krieges, weil Krieg oder nicht Krieg nicht so sehr vom Willen des einzelnen abhängt wie die Diskriminierung anderer Menschen. Der zweite Weltkrieg, hier oft wörtlich zu verstehen als der letzte große Krieg, wird von der Seite des Angreifers her einmütig missbilligt, bis auf ein paar Neonazis auch von den meisten Deutschen. Trotzdem kann man beiläufig lesen, dass jemand am ‚Polenfeldzug‘ teilgenommen hat, das ist die euphemistische Nazibezeichnung für den Überfall auf unser Nachbarland, für den das schon erwähnte Wort ‚Heimtücke‘ besonders zutrifft, weil mit dem gefakten Überfall auf den Sender Gleiwitz ein Rechtfertigungsgrund geschaffen worden war: Seit fünf Uhr, sagte Hitler im Reichstag, wir ZURÜCKgeschossen.
In den lexikalischen Biografien der Nazigeneräle stehen übrigens minutiös alle Auszeichnungen und Orden aufgelistet, die sie bekanntermaßen für gigantische und monströse Untaten erhielten. Hier dürfte die Grabsteinfrage WARUM? angebracht sein, denn diese Praxis könnten wir ganz leicht ändern. So schön das Wort ‚Heeresluftschifffahrt‘ auch sein mag, es bezeichnete eine ebenso grausige Tatsache wie das vom Schlachten herkommende Wort Schlacht. Und übrigens dauerte der Krieg gegen Polen keinesfalls nur siebzehn Tage, wie die Nazipropaganda bis heute glauben machen will. Polnische Einheiten kämpften auch in der Befreiung von Berlin mit, die nicht nur die letzte große Schlacht des zweiten Weltkrieges, sondern der Menschheit war.
Aber auch den Siegesfeiern etwa in Russland, Frankreich und Kanada, so verständlich und berechtigt die Freude über den Sieg auch ist, haftet ein Quäntchen Nostalgie des Krieges, der Uniformen, Orden und nicht zuletzt Waffen überhaupt an. Es ist viel schwerer auf eine berechtigte Siegesfeier zu verzichten, als auf der Rechtfertigung eines noch dazu unsinnigen und heimtückischen Angriffs zu bestehen. Die Gleichberechtigung der Nationen, die den Krieg begonnen und die ihn gewonnen haben, wäre durch den Verzicht auf Waffen wiederhergestellt, und zwar auf die menschlichste und religiöseste Weise, die überhaupt denkbar ist.
Die Herstellung und der Verkauf von Waffen ist nicht die Ursache des Streits, wohl aber die Verlängerung eines äußerst falschen, in das Grunddilemma des Lebens führenden und immer kontraproduktiven Versuchs der Konfliktlösung.
Der Grundimpetus menschlichen Daseins ist die Fürsorge, und die Freude sollte ihr ständiger Begleiter sein. Für beide braucht man keine Waffen, auch nicht als Metapher.