Zweiter Beitrag zu einer Theorie des Instabilbaukastens
Oft erscheint es so, als sei Konservatismus eine Theorie des Lebens im Gestern. Nimmt man den Focus etwas enger, so erscheint er als bloße Verteidigung einer entweder als gottgegebenen oder einfach staatlichen Ordnung. Da aber mit dem Konservatismus nicht nur die Namen und Ideen seiner Theoretiker, sondern auch die seiner ausführenden Politiker verbunden sind, ist es legitim, den Konservatismus an dieser Politik neu zu vermessen.
In Deutschland ist es vor allem und zuallererst das Wirken von Bismarck, das als konservativ betrachtet wird. Sein übergroßer, epochaler und kategoriesprengernder Schnitt der Sozialgesetzgebung, der praktisch den modernen Sozialstaat schuf, hatte indessen nicht nur positive Ergebnisse. In seinem Gefolge erstarkten sowohl die Sozialdemokratie als auch der klerikale Konservatismus, jene beiden Richtungen, die er am meisten bekämpfte. Trotzdem bleibt die soziale Absicherung des als Staatsbürger gedachten Arbeiters eine enorme Leistung, ein Jahrhundertschritt. Auch der Staat selbst, der sich aus den Fesseln des reinen Autoritarismus befreien und auf seinen Paternalismus besinnen konnte, wurde gestärkt, was zu seiner Überschätzung beitrug. Bismarck gehört damit zweifelsfrei in die Siegesallee großer Gedanken. Aber sein Wirken zeigt auch, dass jeder Sprung nach vorn gleichzeitig hecken niederreißt. Bismarck war ja gleichzeitig zu seinem Hobby als Politiker Großagrarier, der auch mit dem Einsatz neuer Technik auf seinen Feldern diese vergrößern musste: mit dem Lokomobil und der Düngung begann das Insektensterben. Der Sozialstaat war also nicht das Gegenteil des Staates, sondern seine Fortsetzung, allerdings völlig neu gedacht. Der Arbeiter, dessen gewaltige mengenmäßige Kraft man sich heute, wo er am Aussterben ist, nicht mehr vorstellen kann, wurde zum Staatsbürger emanzipiert. Das war neu und grundstürzend zugleich. Während Wilhelm II. die Barmherzigkeit stärken wollte, wagte Bismarck den wertkonservativen Sprung zur Berechtigung, die er sich vielleicht nicht als Gleichberechtigung denken konnte. Genauso darf man Bismarck nicht nur vom Reichstag her vorstellen, sondern immer auch als einen von Fontane ausgedachten Landadligen.
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Auch Adenauer ging von einem paternalen Versorgungsauftrag aus, wie man an seinen im ersten Weltkrieg erdachten, weitgehend ungenießbaren Graupen sehen kann. Seine Konstruktion ist die Westbindung, vor allem der an ein Wunder grenzende Ausgleich mit Frankreich. All diese Kriegerdenkmäler, die noch heute überall herumstehen, feiern Helden gegen Frankreich. In Frankreich den wahren Bruder und die liebreiche Schwester erkannt zu haben, ohne die Deutschland gar nicht denkbar ist, ist Adenauers Verdienst, auch dies mehr als ein Jahrhundertschritt. Dass Adenauer dabei ganz pragmatisch vorging, schmälert seine Leistung ebensowenig wie die Bismarcks. Die Spiegelaffäre von 1962 zeigt seine Staatsüberschätzung, die Graupen von 1916 dagegen demonstrieren seine Versorgungsmentalität. Durch sein biblisches Alter durchschritt er, der einst der jüngste Oberbürgermeister, dann aber auch der ältest denkbare Regierungschef war, einen großen historischen Raum, der als Rahmen vielleicht ein wenig zu groß war. Merkwürdigerweise ist er der erste von drei konservativen Politikern, die von allein kein Ende finden konnten. Während der von Adenauer vehement bekämpfte, als uneheliches Kind und Vaterlandsverräter gescholtene Willy Brandt fast leichtfertig seine Macht aufgab, klebte der greise Adenauer an der Macht wie an einem Eisblock, von dem er nicht mehr loskommen konnte. Er starb wahrscheinlich verbittert wie Bismarck, den sein junger Kaiser entlassen hatte.
Kohl, der Kolloss aus dem Zwergenland, musste am Anfang viel Spott erdulden. Aber auch seine Stunde schlug, indem ein konservativer, von ihm verachteter Klüngel aus dem von ihm ebenso vehement verachteten Nachbarland ebendieses Land in den Ruin trieb. Dieser Ruin war wirtschaftlich, außen- und innenpolitisch bedingt. Ein alter konservativer Gedanke, dass man das Alte nur aggressiv genug zu schützen brauche, führte zu dem perversen Konstrukt der Einmauerung bei gleichzeitiger permanenter Wehrhaftigkeit. Interessant ist, dass die Spiegelaffäre durch einen Artikel ausgelöst wurde, der die Bundeswehr nur als ‚bedingt abwehrbereit‘ sah. Denselben Denkfehler, dass man unter Abwehrbereitschaft in beiden Deutschländern eine Angriffsbereitschaft der Größenordnung des 31. August 1939 oder des 21. Juni 1941 verstand, wurde dadurch begünstigt, dass in beiden deutschen Armeen die Generäle der Vergangenheit die Pläne ausarbeiteten.
Kohls Aufstieg war der Niedergang seiner Widersacher, seine Leistung die Vereinigung vorher als unvereinbar angesehener Teilsysteme, die ihre gemeinsame Herkunft nicht leugnen konnten und wollten. Mit großer Energie überwand er sowohl seine eigenen Vorurteile wie auch widerwärtige Fakten. Vergessen wird gerne, dass er, wie sein Vorvorgänger Brandt, oft die DDR inkognito besucht hatte. Bei Brandt war es die Freundschaft zu Mitterand, der immer wieder gern, von der Staatssicherheit beargwöhnt, die Stätten seiner deutschen Vergangenheit aufsuchte: Internierunglager. Bei Kohl war es die Herkunft seiner ersten Frau, der er kraft seiner Bedeutung die Reise zu den Verwandten ermöglichte. Das dabei wahrscheinlich vereinbarte Stillschweigen währt bis heute. Aber Kohl wird heute auch mehr unter dem Aspekt seines mehrfach schmählichen Endes betrachtet, was historisch höchst ungerecht ist. Denn stellen wir uns vor, dass Lafontaine der Kanzler der Einheit geworden wäre, dann hätte er seinen Symbolcharakter als Meister der Uneinheit auf das ganze Land übertragen können. Auch er ist, wie vorher Brandt und Kohl, nicht ohne seine Frauen denkbar.
Warum wird nun also der Konservatismus von Angela Merkel so sehr verkannt? Sie ist bis zur Flüchtlingskrise von 2015 als eher unscheinbar und über ihren formalen Politikstil beurteilt und unterschätzt worden. Sie ist, das ist als Erkenntnis allerdings nicht neu, die erste Politikerin mit einem weiblichen Führungsstil, insofern die Fortsetzung der durch ihre Frauen geleiteten männlichen Vorfolger. Obwohl sie einen so sachlichen und kühlen Beruf hat, ist scheinbar mehr durch die Paternalität ihres Elternhauses geprägt, nicht durch dessen west-östliche Schieflage. Wie auch Nietzsche immer mit dem Satz zitiert wird, dass Gott tot sei und nicht mit dem, dass wir eine neue Kultur und Moral brauchen, wird Merkel mit ihrer (und unser aller) geradezu lächerlichen Verbundenheit mit der FDJ zitiert und nicht mit dem deutsch-deutschen Pfarrhaus, aus dem sie stammt. Von daher könnte ihre geradezu spontane Rückbesinnung auf den christlichen Wert der Nächstenliebe stammen.
Allerdings ist es ihr auch in den folgenden Jahren nicht gelungen, das überzeugend neu zu interpretieren. Man darf Migration eben nicht unter rein wirtschaftlichen, sogar utilitaristischen, oder nur juristischen Gesichtspunkten sehen. Wer den beschwerlichen Landweg – Balkanroute – oder den gefählichen Seeweg über das Mittelmeer überstanden hat, ist nicht der bessere Mensch an sich oder der qualifizierte Spezialist, sondern flexibel, entschlossen und konstruktiv. Er hat also jene Eigenschaften, die uns, neben unserer fachlichen Qualifikation, abverlangt werden. Niemand weiß, ob und wie uns insgesamt diese Eigenschaften nützen können oder werden. Aber das ist doch immer so: niemand kennt die Zukunft, niemand weiß, wo, wie und wer er übermorgen sein wird.
Jeder Mensch braucht eine solide intellektuelle Grundausstattung, ein Beharrungsvermögen, das kann Fleiß, das kann Konservatismus sein, und Glück, das immer unterschätzt wird. Man darf darunter eben nicht Lotto verstehen, in dem man nichts, sondern eher ein Lächeln, mit dem man alles gewinnen kann.