Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird.*
Ein Jahrhundert lang herrschte der Bachchoral als Maß oder Norm der perfekten Vierstimmingkeit. Er ging dann später zusammen mit dem Gospel seinen Weg in Jazz und Pop, schließlich in die Epoche der Allgegenwart von Musik. Überall auf der Welt laufen heute Menschen mit Kopfhörern, die aus den Endgeräten** der gespeicherten und ewig reproduzierten Kommunikation den musikalischen Teil in die Ohren von Milliarden Menschen transportieren.
Genauso streng vierstimmig und damit die vier menschlichen Stimmlagen abbildend, aber weitaus elitärer kam dann ab 1800 das Beethovensche Streichquartett daher. Das Bürgertum hatte in Städten wie Wien, wo Beethoven lebte, oder Hamburg oder London den Konzertbetrieb übernommen, aber auch die Hausmusik aus den Kantorenhäusern in die normale bürgerliche Familie transferiert. Die gesamte Kammermusik des neunzehnten Jahrhunderts war für den häuslichen Gebrauch gedacht. So wie heute in jedem Haushalt ein Fernsehgerät und ein Computer steht, so stand hundertfünfzig Jahre lang in jedem bürgerlichen Wohnzimmer ein Klavier. Der Bruch ist doppelt: der Wohlstand breitete sich auf alle Menschen - sogar weltweit - aus, aber die Aktivität nahm gleichzeitig ab. Allerdings gibt es heute wesentlich mehr Freizeit und demzufolge auch mehr aktive musikalische Betätigung als zu jeder andren Zeit.
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Man kann die Beethovenschen Streichquartette aber auch anders deuten.
Während die Klaviersonaten, wie vorher auch schon Bachs Wohltemperiertes Klavier, die Emotionen eines Menschen abbilden und ausdeuten, man denke nur an den hämmernden Beginn der Waldstein-Sonate, zeigen die Streichquartette das menschliche Miteinander.
Innerhalb eines strengen Rahmens werden Argumente nicht nur ausgetauscht, sondern solange moduliert, verändert, variiert, permutiert, bis sich eine schlüssige Lösung findet. Aber wir wissen: beim nächsten Hören wird die Lösung anders klingen oder es ist plötzlich keine Lösung mehr oder sie ist nicht mehr schlüssig, sondern weist auf Zukünftiges hin. Nichts im Fluss der Musik ist absolut. Musik ist das getreue Abbild der Relativität, das gilt natürlich auch umgekehrt. So gesehen wundert es nicht, dass Einstein Musiker war. Es entwickelt sich mit dieser Musik eine Kultur des Dialogs, auch des Streits, die aber immer in der abgeschlossenen Form bleibt. Das ist das genaue Gegenteil des heutigen Framings. Das freie Spiel der Alternativen in einem Streichquartett oder einer Podiumsdiskussion oder eines liebenden Paares wird beim Framing in ein Deutungsraster gepresst, an dem sich auch die oft gegensätzlichen Parteien erkennen. Schließlich geht es nur noch um die gegenseitige Erkennung der Herkunft oder der Identität.
Alle Gruppen erodieren, alle Identitäten verändern sich. Aber damit ist leider noch nicht der ideale, von Beethoven herbeigesehnte Zustand, dass es nur noch Menschen gäbe, erreicht. Auch Schiller muss noch auf das Elysium warten. Auf der einen Seite sehen wir Weltbürger und Globalisierungsgegner. Auf der anderen Seite sehen wir die Lordsiegelbewahrer der alten Identitäten Nation, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Ideologie, Hierarchie.
Die Seite der Bewahrer spielt sozusagen den unendlichen Stimmton a= 440 Hertz und lässt keine Veränderung zu. Tatsächlich ist der so genannte Kammerton selbst relativ und im Laufe der Jahrhunderte immer höher geworden. Tatsächlich ist sogar ein Ton dann veränderbar, wenn er auf einer beweglichen Quelle installiert wurde, das ist bekannt als Doppler-Effekt.
Die andere Seite sucht nicht die neue Identität. Ihr Problem ist vielmehr, dass wahrscheinlich oder möglicherweise Identität nicht mehr geeignet ist, den Zustand des Menschen in Relation zur Welt zu beschreiben. So wie die Naturforscher eines Tages verängstigt feststellen mussten, das die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft nicht mehr ausreichen, um die Natur zu beschreiben, so sehen die Menschenforscher sich heute vor dem begriffstheoretischen Abgrund des Menschen in einer Welt ohne Hunger, ohne (Welt-)Krieg, ohne Pest, mit ungeheurer Mobilität von Menschen, Dingen und Gedanken. Obwohl es viel mehr Menschen gibt als je zuvor, sind sie auch erkennbarer und verbundener als je zuvor. Ihre Ungleichheit sehen sie als überwindbar an, während die Ungleichheiten früherer Zeiten als unüberwindbar galten. Ihre Gleichheit lernen sie als Gleichartigkeit und Gleichberechtigung schätzen.
Ihre Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit erkennen sie wie Schuppen, die ihnen von den Augen fallen. Und plötzlich haben sie alle das gleiche Ideal: die Freiheit, die bis zur Unkenntlichkeit verschleierte Frau im Iran, der homosexuelle Priester im Vatikan, der junge Ziegenhirt in Eritrea, die Büroarbeiterin in Hongkong, der Neonazi in der Uckermark, das vom Polizisten mit der Pistole bedrohte Straßenkind in Brasilien, die Opiumbauernfamilie in Afghanistan, der suizidgefährdete junge Inuit auf Grönland, sie alle können plötzlich erkennen: die Vergangenheit begann nicht mit der Sklaverei und die Zukunft endet nicht in der Autokratie.
Parteien und traditionelle Herrschaftsinstrumente erodieren da, wo dieses wahrlich nicht neue Ideal aufscheint, ihm folgt aber immer als Schatten das Gespenst des autoritären, hierarchischen Führers in seiner erbarmungswürdigen Endlichkeit, zu der die Hymnen des Scheiterns gespielt werden: DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBER ALLES.
Das heißt doch nicht, dass nicht jeder sein Land oder seine Region als die beste der Welt empfinden kann. Das wird schon deshalb noch lange so bleiben, weil weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung die Welt nur aus dem Fernsehen und aus dem Internet kennt. Es ist mit den heutigen Mitteln, Flugzeug, Kreuzfahrtschiff, auch nicht wünschenswert, dass es mehr werden, so sehr man den Benachteiligten das Reisen wünschen mag.
Dieses Widerstreben in der formalen Einheit findet sich im Streichquartett. Der gegenwärtige Zustand der Diskurskultur kann kaum anders beschrieben werden, als dass sich die Kontrahenten gegenseitig mit Streichquartetten und Wohnzimmerklavieren bewerfen. Der Austausch im Moment, und nicht nur in Deutschland, beruht wohl eher darauf, sich Identitäten an den Kopf zu werfen. Die Argumente verkümmern zu Ziegenkotkügelchen.
In der Uckermark wird im August wieder ein Schuljahr mit durchschnittlich siebenundzwanzig Schülern je erster Klasse beginnen. So entwickelt sich im besten Fall Durchschnitt. In Kenia beträgt die Alphabetisierungsquote knapp 80%, aber in den Klassen sitzen bis zu 80 Schülern und die unausgebildeten Lehrer arbeiten mit vorgefertigten Unterrichtsprogrammen auf Tablets.
Die Finanzminister der Welt sind aufgefordert, sich Beethovens Streichquartette anzuhören, den Verteidigungsministerien sämtliche Mittel zu STREICHEN und sie in den Bildungsbereich zu transponieren. In meiner Aufnahme der Streichquartette von Beethoven spielt der erste Geiger eine Stradivari-Geige aus dem Jahre 1686. Wo und wann solch ein Handwerk blüht, muss man um die Gesellschaft keine Sorge haben***.
02.02.2020
*Beethoven an Struve 1795
**ironische Anspielung auf ‚GRIME‘ von Sybille Berg
***www.medienschmiede.online