Eine Weihnachtsbetrachtung
In dieser Vorweihnachtswoche bin ich dreimal erkannt worden. Gleichzeitig hat sich damit ein Verdacht erhärtet, den ich schon lange habe: dass wir in den reflektierten Bildern und Worten einer Welt leben, statt in einer Welt mit Dingen, Erscheinungen, Bildern und Worten. Der Bruch trat ein, als sich unser Leben in Europa vom Land in die Stadt, vom Feld in die Fabrik und von der Kirche in die Schule verlagerte: Urbanisierung, Industrialisierung und Säkularisierung waren der dritte große Einschnitt nach der neolithischen Revolution und der Renaissance mit dem Buchdruck und dem Beginn der Globalisierung.
Den vierten Umbruch erleben wir jetzt mit der Digitalisierung.
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Geht man durch eine Sammlung alter Meister der Malerei, so kann man leicht sehen, dass sie eine Welt der Fiktionen malten, eine vorgestellte Welt, zum Beispiel DAS JÜNGSTE GERICHT. Gleichzeitig muss man aber beachten, dass diese Bilder, die wir heute in Museen zu hunderten sehen, früher nur ganz singulär vorhanden waren, in Kirchen für alle, in Rathäusern und Schlössern für Eliten. Hinzu kommt die Kopiermöglichkeit, die es uns erleichtert, einen Masaccio* zu sehen, ohne nach Florenz fahren zu müssen.
Die Fiktionen waren antike Mythen und religiöse Erzählungen, allerdings seit der Antike auch schon Portraits und Landschaften, aber die sollen hier nicht interessieren. Dadurch wurde die Vorstellungskraft entwickelt und gestärkt.
Heute dagegen wird die wirkliche Welt täglich tausendfach gespiegelt und kommentiert. Unsere kommunikativen Fähigkeiten werden maschinell so vielfältig und beschleunigt, dass wir sozusagen unserer eigenen Welt nicht mehr folgen können. Wir heutigen Menschen haben also nicht nur die Veränderung selbst zu erleben, die in ähnlicher Dimension auch der Renaissancemensch durchlief, sondern ihre ständige Wiederholung und Kommentierung. Überschlagen wir bitte zur Probe einmal, wie oft wir in den letzten dreißig Jahren den folgenden Satz gehört haben: ‚Das ist…nach meiner Kenntnis…sofort, unverzüglich…“
Das war gestotterter Unsinn, der allerdings Geschichte machte, auch interessant als Lehrbeispiel gegen Verschwörungstheorien. Gleichzeitig entsteht durch diese Allgegenwart der sich überschlagenden und in Endlosschleife reproduzierten Ereignisse auf der einen Seite der Eindruck der eigenen Überlegenheit, auf der anderen Seite aber die Furcht vor dem Vakuum. Die Leerstelle der halbstündlichen Nachrichten, auch wenn nichts passiert, wird durch übereifrige Redakteure durch Sommerlochrhetorik gefüllt.
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Am Anfang der Woche beschimpfte mich ein Neurechter als Pazifismusschwätzer. Auf meinen Blog über die Nobel Lecture des äthiopischen Premierministers Dr. Abiy Ahmed Ali erwiderte er nicht etwa Argumente – wie auch, Krieg ist bestimmt kein ‚way of life‘, sondern immer ein way of death -, sondern die ewiggestrigen Vorstellungen von ‚Wehrhaftigkeit‘ und dergleichen, wie sie seit altersher von den Bellizisten vorgetragen werden.
Nur ist inzwischen Beruhigung in das Leben der Völker eingetreten. Europa hat die längste Friedensperiode seiner Geschichte erleben dürfen. Der Westausgleich und die Westanbindung ist durch einen der wenigen großen Konservativen, Adenauer, der Ostausgleich durch einen der wenigen großen Sozialdemokraten, Brandt, zustande gekommen, durch Handel und Wandel und die EU. Die EU als pseudodemokratisches Monster darzustellen, ist eine glatte, wahrscheinlich auch absichtliche Verkennung ihrer Aufgabe und ihrer Leistung. Selbst die Kritik an der GradheitDerGurke-Norm war böswillig, denn sie war eine Forderung des Handels und kam aus dem nationalen Recht. Man muss die Dimensionen, die Geschichte und die manchmal kollidierenden Interessen beachten, wenn man über dieses größte Projekt Europas seit dem Westfälischen Frieden nachdenkt.
Europa, gern von den Neurechten als christliches Abendland bezeichnet, beruht auf Barmherzigkeit und Feindesliebe, nicht auf Wehrhaftigkeit und Waffen. Die Waffen sind nicht am Krieg schuld, aber mit weniger Waffen gibt es auch weniger Mord und Totschlag und Krieg. Pazifismusgeschwätz. Vielleicht sind sie, die bellizistischen Neurechten, auch aufgerufen, das Machwerk eines ihrer Vorboten zu erfüllen: Deutschland abzuschaffen.
Die Rede des äthiopischen PM bezog sich nicht auf pazifistische Visionen, sondern auf einen konkreten und bewunderswerten Friedensschluss nach einem über vierzig Jahre manchmal schwelenden, manchmal offen ausgetragenen Konflikt.
Dieser Krieg, der nicht nur viele Opfer, sondern auch viele Entwicklungschancen kostete, war sinnlos. Er ging um ein paar Quadratmeilen, wie es schon bei Hamlet heißt. Jeder Krieg ist sinnlos, auch der gewonnene, der größte Feldherr ist immer noch Pyrrhos. Abyi Ahmed, der selbst in diesem Krieg war, begründete in Oslo, warum Frieden notwendig und möglich ist. Das heißt, der Geist des Friedens kann sich endlich auch in Afrika ausbreiten. Und das wiederum heißt, dass die kreativen Kräfte in diesem riesigen Gebiet zum zweiten Mal, endlich, endlich, eine Chance haben.
Der Krieg ist nicht nur nicht der Vater von allen Dingen, sondern er ist der Pate des Untergangs. Den Bellizisten bleibt nichts als die Arroganz des Unterlegenen. Und: wer sich selbst zum Realisten erklären muss, weil kein anderer es tut, kann schon deswegen keiner sein.
Ich dagegen nehme diesen Beinamen gerne an, selbst wenn der Spender von Missgunst gerieben war: der eloquente Friedensbote.
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In der Mitte der Woche stand ich mit einem Neubürger, dessen Gesicht seine einzige Verbindung an die Vergangenheit, dessen Hintergrund** aber diese Plattenbausiedlung in der Hauptstadt der Uckermark ist, an seinem neuen Hauseingang. Ein alter Mann schob sein Fahrrad die Kellertreppe hinauf. Wir begrüßten uns freundlich und er erfuhr von seinem neuen Mitbewohner. Und da sagte er: ‚Ich bin ein alter Ossi. Wir sehen das anders.‘ Das war ganz sicher nicht feindlich gemeint. Er wollte offensichtlich erklären, vielleicht sogar rechtfertigen, dass er die Welt anders sieht.
Aber es sind dreißig Jahre seit der Wiedervereinigung vergangen, und sein Alter erlaubt die Verwendung des Begriffs der Wiedervereinigung. Aber weshalb hat er mich, obwohl ich es zweimal erklärte: auch ich bin ein alter Ossi, nicht als Ossi – ich verabscheue das Wort – anerkannt? Er hat mich ikonografisch aus seiner Welt ausgeschlossen.
Wieso beharren wir weiter und immer weiter auf unseren möglichen Differenzen, die von Äußerlichkeiten geprägt, statt auf unseren Gemeinsamkeiten, die unser wahrer Charakter sind? Es ist übrigens bei jedem Menschen so, dass lediglich sein Gesicht ihn mit seiner Vergangenheit verbindet. Das Angesicht schleppt er sein ganzes Leben mit sich, aber die Hintergründe, ob es das Schweriner Schloss oder Konstanz am Bodensee, Berlin-Kreuzberg oder die Prenzlauer Plattenbausiedlung ist, ändern sich und sind unser Jetzt und Heute.
Das Angesicht ist also die einzige Schnittstelle (only face is interface).
Auch wenn er – das unterstellen wir einmal – sein ganzes Leben in dieser Plattenbausiedlung zubrachte, ist nur sein Gesicht gleichgeblieben. Wenn er, falls er gedanklich noch im alten Osten (‚alter Ossi‘) lebt, muss ihm Kaufland als Paradies vorkommen. Wir können ihm keine Ratschläge geben, aber wir denken eher über Auswege aus dem Überfluss und der Plastik- und Wegwerfwelt statt über Wege in die Isolation von Mauern und Vorurteilen nach. Vielleicht sollten wir das einmal im Kaufland oder Neukauf, Real, Marktkauf, Penny oder Netto an den Notausgang schreiben.
3
Am Ende der Woche betrat ich die wunderschöne, von Friedrich August Stüler erbaute und von Volkmar Haase*** außen mit einem Stahlaltar geschmückte Matthäuskirche im Berliner Kulturforum. Es war gerade eine Andacht, aber eine sehr nette ältere Frau empfing mich freundlich und sagte mir, dass ‚das hier‘ gleich zuende sei und ich mich für wenige Minuten setzen könne.
Woher wusste sie, dass ich mir die eigenartigste Ausstellung der merkwürdig überrealistischen Bilder von Norbert Bisky ansehen und nicht die Andacht hören wollte? Sie hat mich ikonografisch erkannt.
Bis auf eine Ausnahme, das Bild mit dem neugeborenen Baby, das hinter dem Steinaltar hängt, sind alle Bilder an der Holzdecke der Kirche angebracht. Einige Spiegel verhelfen zu Einsichten. Überall liegen Fern- und Operngläser herum. Bisky, den einige zu den bedeutendsten Malern der Gegenwart zählen, den man gut mit Neo Rauch vergleichen kann, der wie dieser ein noch nicht so alter Ossi ist, malt die neue Welt mit den Mitteln der alten: das sieht aus wie sozialistischer Realismus, aber die Gegenstände stammen alle von heute.
Was der alte Ossi in seiner Plattenbausiedlung nicht schafft, realisiert der realistische Maler: er verwendet die damals euphemistische, übertriebene Freundlichkeit einer eigentlich grauen Welt, um die Probleme der heutigen Welt freundlicher zu sehen, als sie dem einen oder anderen erscheinen mögen. Und damit erklärt er sich nicht selbst zum Realisten, sondern – verstärkt durch die tatsächlichen Spiegel – wird sein Werk zu einem symbolischen Spiegel und zu einer ‚abgekürzten Chronik der Zeit‘, nochmals aus dem Hamlet zitiert.
Aber leben wir nur noch in ikonografischen Gruppen, erkennen uns an Symbolen und Sprechblasen? Es scheint manchmal so, als ob wir unser Leben von außen beobachten würden. Wir bilden uns selbst als Fiktion ab. So sehr die allgegenwärtige und tausendfach kopierte Kunst begrüßenswert ist, so schön es sein mag, jedem Bekannten und vielen Unbekannten in jeder Sekunde den eigenen Seelenzustand mitteilen zu können: zu wenig sehen wir seinen oder ihren Seelenzustand.
Wir irren als alter Mann oder als alte Frau in einem Park der freizügigen und allgemeinen Kommunikation ziellos umher. Wenn unser Ziel die Lebensverlängerung ist, was machen wir dann in den letzten dreißig Jahren in den überfüllten Heimen mit unseren zerbrechlichen Rollatoren?
Leider sieht man im Moment ein weiteres Symbol dieser dreifach gespiegelten Symbolwelt: die Weihnachtsmärkte, auf denen man schon lange nichts mehr kaufen will oder muss oder kann, sondern auf die man die überflüssige Zeit und das überflüssige Geld zu Markte trägt, um nichts an Sinn hinzuzugewinnen.
Statt mit dem Yesuskind jedes Kind als Neubeginn und Sinnzuwachs zu feiern, raisonnieren wir über den Kinderreichtum der Armen und Migranten, verbreiten Vorurteile über Roma und Afrikaner und schämen uns nicht, selbst keine Kinder und keinen weiteren Sinn – außer Konsum - zu haben.
Ein neues Weihnachten wäre: vom Frieden, den wir machen, auch zu reden, statt in den eigenen Spiegel in das Gesicht des nächsten Menschen zu schauen und mit ihm zu fühlen und an der Bildung der Menschen mit Wort und Tat teilzunehmen.
*der gestern (21.12.) 618. Geburtstag hatte und von dem fünf Bilder auch in Berlin zu sehen sind
**Your face is your past, but the background now.
***deutscher Bildhauer in Berlin-Kladow und Brüssow in der Uckermark, 1930-2012