Die Ungerechtigkeit der Welt zu beklagen ist nicht nur richtig, sondern bringt auch viel Zustimmung. Aber es ist höchst ungerecht, die Fortschritte der Menschheit in den Strudel des Populismus zu werfen. Neid ist ein böses Kleid, aber wer es anzieht, schmutzt sich selbst. Es gab noch nie so viel Geld, soviel Reichtum, aber es gab auch noch nie so wenig Hunger, Pest und Krieg. Es gab noch nie so viel Freizeit, Kunst und Unterhaltung, es gab noch nie so viel Wissen für alle. Die Elenden der Welt leiden weiter unter der Ungerechtigkeit, aber sie hungern nicht mehr und sie sind keine Analphabeten. Sie sind nicht abgeschnitten vom Wissen der Welt. Im Gegenteil, sie erfahren täglich Dinge, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben, die aber immer auch Lösungsmöglichkeiten für Probleme enthalten, die wir alle haben. Die Kluft mag größer werden, aber es muss heute daraus kein Dissens mehr konstruiert werden. Gleichzeitig muss man aber auch bedenken, dass die Sicht, die Kluft würde größer, vielleicht selbst veraltet ist. Wenn es auf der Seite der Armen so viel weniger Elend gibt, dass selbst die verbohrtesten Marxisten auf die Verelendungstheorie ihres Begründers verzichten mussten, dann sollte man einen neuen Blick auf die Welt wagen.
Ist es nicht vielmehr so, dass auf der einen Seite der Welt die Menschen sich nach dem scheinbar omnipotenten Konsumismus sehnen, den sie auf der anderen Seite der Welt in ihren Fernsehapparaten und Smartphones sehen? Der Konsumismus ist der neue Kommunismus. Die reiche Seite der Welt verzehrt sich währenddessen an ihrem schlechten Gewissen, ihrem Überdruss, leidet an dem Wachstum, das sie nicht stoppen kann. Verlustängste werden zu Alpträumen. Aber das Leid der unablässig wachsenden Welt ist schon ein Alptraum, weil er vom ebenfalls zunehmenden und unübersehbaren Tod der Natur begleitet wird.
Die Lösung dieser Menschheitsprobleme sind also weder neue Parteien, die einfache Antworten in Unterschichtsprache zu geben versprechen, noch alte Parteien, die in ihrem Parteikauderwelsch so sehr erstarrt sind, dass sie sich selbst vergessen.
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Vielleicht gibt es keine Lösung. Man muss das Scheitern nicht nur für Personen und Ideen denken können, es kann sich auch auf die Menschheit oder das Universum ausdehnen. Pflanzen- und Tierarten sind ausgestorben, Kulturen, Imperien und Nationen sind untergegangen, Menschen und Ideen haben sich selbst ad absurdum geführt. Byzanz wurde am 29. Mai 1453 von Mehmet II. erobert, aber das Sowjetimperium ist an seiner Hybris zerbröckelt. An Apokalypsen hat es nie gefehlt, und dass bisher keine in Realität umschlug, heißt nicht, dass das so bleibt. Was wahrscheinlich ist, muss nicht wahr werden, und was wahr wird, muss nicht wahrscheinlich gewesen sein. Andererseits ist mit Apokalypsen immer auch Stimmung gemacht, sind Ängste instrumentalisiert worden. Das Scheitern der Zeugen Jehovas beim Voraussagen des Endes der Welt zeigt nur, dass niemand die Zukunft voraussagen kann. Geheimdienste mögen erfolgreich sein in der Ausforschung der Vergangenheit, zum Beispiel bei der Verfolgung Eichmanns, aber die Zukunft können auch sie nicht voraussagen. Hier zeigt sich, dass der Konsumismus nur scheinbar omnipotent ist: Weisheit kann man nicht kaufen.
So wie die Schallplatte Emil Berliners das gesamte Universum der Information und Unterhaltung, Konservierung und Reproduktion revolutionierte, ohne dass irgendjemand diese Umwälzung vorher ahnte, obwohl alle Elemente dieser Technologie schon vorhanden waren, so wird auch innerhalb der bereits bekannten Systeme, Prozesse, Ideen oder Menschengruppen eine Vision entstehen, deren langsame Verwirklichung ein Weiterleben ermöglicht.
Die Probleme sind nicht leicht zu lösen. Wir müssen eine bis vielleicht 2050 wachsende, dann schrumpfende Weltbevölkerung ernähren, ohne das heute übliche extensive oder intensive Wachstum. Das gleiche gilt für den Energiebedarf, der völlig ohne fossile Träger reduziert und gedeckt werden muss. Die Verträglichkeit mit der Natur ist nicht nur Naturschutz um seiner selbst willen, auch nicht nur um den Menschen als Teil der Natur zu schützen, sondern er dient genauso auch der Förderung und dem Schutz der menschlichen Empathie. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er die Natur lieben, die er nicht sieht?
Wir müssen eine Ordnung finden, die gleichzeitig offen und geschlossen ist. Der Diskurs ist umständlich und langwierig, jedes seiner fragilen Ergebnisse wird sofort angezweifelt. Der Zweifel mag das Automobil und das Smartphon gebären, für das Zusammenleben der Menschen ist er toxisch. Charisma neigt nur selten zur Demut, deshalb sind Führer, so beliebt sie auch zeitweilig sein mögen, schädlich für das Zusammenleben. Trotzdem wird in der Zukunft vielleicht eine Symbiose aus Charisma und Diskurs den Rahmen einer Ordnung bilden, die heute nicht vorstellbar ist. Vor kurzem war auch die Emanzipation der Frauen und der Elenden und der Kinder noch nicht denkbar. Was heute nicht denkbar ist, ist deshalb nicht undenkbar. Wir müssen vielmehr historisch denken und dürfen nie den Beitrag Einsteins zum Weltdenken vergessen: Es gibt keine Gleichzeitigkeit, und was nicht synchron ist, ist deshalb noch lange nicht ahistorisch.
Der Sinn unseres Daseins erschöpft sich indessen nicht im Essen. Je weniger sich Ernährung als Problem zeigt, je weniger also reine Reproduktion als Sinn des Lebens gesehen werden kann, desto mehr muss für eine dann wieder kleiner werdende Menschheit ein Sinn jenseits der Arbeit gefunden werden.
Das Senftenberger-See-Syndrom führt dabei, selbst wenn es im Moment als richtig und sogar richtungweisend empfunden wird, in die falsche Richtung: man kann nicht einfach reparieren, was man vorher zerstört hat. Man muss stattdessen aufhören zu zerstören. Der Weg zu einem erfüllten Leben für alle Menschen liegt also nicht in der Reproduktion ihrer selbst, sondern in der Reproduktion des Lebens selbst: in der Kunst und Wissenschaft. Wissen schafft Glauben. Glauben wird immer weniger anthropomorphe Wesen wie Götter oder Gott hervorbringen, sondern Lebensmodelle. Wer durch seine Taten behindert ist, wird durch seine Herkunft nicht beschleunigt. Auch auf dem geistigen Gebiet muss also der omnipotent erscheinende Konsumismus durch Produktion, also durch Denken, ersetzt werden. Dieses Denken ist auch das Durchdenken schon vorhandener Gedanken. Die Erziehung muss von der Dressur zum Fakt wieder zur Kultivierung des Denkens zurückfinden. Dieses Denken bricht sich nicht nur in der Wissenschaft Bahn, sondern auch in der Kunst. Das Ergebnis kann eine an sich selbst glaubende Menschheit sein. Dann muss es keine Elenden mehr geben.
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