Ein Brief

Liebe D.T.,

endlich habe ich nun das von dir geschenkte Buch gelesen und verstehe, warum du es mir geschenkt hast. Viele Schreibende – bei den Lesenden erfährt man es nicht – sind in dieser uns so schnell erscheinenden Zeit – aber ein Blick in den Salomon, Shakespeare und die Barockdichtung zeigt: die fanden die Welt auch zu schnell, bloody tyrant time – fasziniert von der Gleichzeitigkeit der Menschen und Dinge. Wir erleben als nebeneinander stehend, was unsere Vorfahren noch schön sortiert nacheinander erfuhren. Genossen haben sie es auch nicht, sie litten unter dem, was sie sahen, wir leiden an der heutigen Welt und eines unserer klagenden Lieblingsworte ist deshalb auch ‚heutzutage‘, was immer so klingt, wie ein resignierender Greis im Kreis seiner technikbegeisterten Enkel.

Einen alternde Professor, der mit der plötzlich vorhandenen Zeit und dem leeren Raum um ihn her hadert, beschreibt Jenny Erpenbeck aus der Pankower Erpenbeck-Literatur-Dynastie in ihren jüngsten und hochaktuellen Roman GEHEN, GING, GEGANGEN. Modellhaft stellt er unsere vielfach zerrissene und auf wundersame Weise Gleichzeitigkeit repräsentierende Welt dar. Er kann auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht so recht fassen, dass er im vereinten Deutschland nicht nur lebt, sondern hochangesehen und wohlhabend ist. Zwar wurde das Orchester, in dem seine Frau einst Bratsche spielte, abgewickelt, aber sie hatte, wie wir auf den letzten Seiten erfahren, noch drei weitere Probleme, nämlich dass sie nach einer Abtreibung keine Kinder mehr bekommen konnte, dass ihr Mann eine Klischeegeliebte hatte, nämlich eine Studentin, und dass sie deshalb dem Alkohol in diesen kleinen billigen Chantréfläschchen, die es an der Kasse gibt, verfallen war. Dieses Vakuum füllt der alternde Professor mit seiner Beschäftigung, denn zunächst ist es mehr Interesse als Engagement, für eine Gruppe westafrikanischer Flüchtlinge, die er auf dem Oranienplatz zufällig gesehen hat. Am meisten wundert er sich darüber, dass wir als aufgeklärte, höchstmoderne, mit schnellster Informationstechnik ausgerüstete Menschen nicht in der Lage sind zu unterscheiden, ob wir etwas wollen oder etwas uns will. Würden wir mehr auf die Afrikaner hören, so wäre die Antwort schnell gefunden: Wer das Mittelmeer in lecken Schlauchbooten ohne Steuermann überlebt, mit dem hat Gott etwas vor. Wer kurz vor dem Verhungern ist, dem zeigt das Schicksal einen Ring, der in einer für einen einzelnen Menschen viel zu großen Villa sinnlos herumlag, wie der Leser weiß, schon seit Jahrzehnten. Aber da begibt sich der Dieb, obwohl er sein Überlebensproblem kurzfristig gelöst hat, in ein unlösbares moralisches Dilemma, das mit seinen kindlichen Thesen und unserem übertriebenen Rechtsverständnis kollidiert. Er tritt, obwohl die Erzählerin die Schuldfrage letztlich offen lässt, nach dem möglichen Diebstahl nicht mehr auf und muss sich selbst verleugnen. Wir lehnen aber diese einfachen klaren Denkstrukturen ab und nennen sie kindlich. Wenn wir bei Verstand geblieben sind, lehnen wir aber auch die Produkte eines kranken, bürokratischen Ungeistes ab, der zum Beispiel Duldung als Aussetzung der Abschiebung definiert. Demnach wäre Leben auch nur die Aussetzung des Todes und der Bürokrat in einem üblen Sinne allmächtig. Vielmehr ist der Professor in seiner Ostvilla das Sinnbild, nach dem wir handeln könnten und nach dem er auch im letzten, fast utopisch zu nennenden Kapitel handelt: er füllt sein Sinnvakuum mit Menschenliebe und seine Bibliothek mit lieben Menschen. Um das als richtig, machbar und notwendig zu erkennen, muss er aber erst eine Berliner Odyssee durchlaufen, vom Altersheim, das jetzt ein Flüchtlingsheim ist, aber dann umgebaut wird, nach Spandau und von da in das Kirchen- und Wohnzimmerasyl.

Und genau dort in Spandau, liebe D.T., du hast es vielleicht geahnt, kam auch ich in der ersten Flüchtlingskrise vor zwanzig Jahren zu meinem Interesse an der Verwandlung von Papierfetzen in Menschen. Genau wie damals in Spandau, sind auch hier die Flüchtlinge in einer ehemaligen Kaserne untergebracht, und das ist allemal besser als in einer Turnhalle, die noch dazu gebraucht wird. Die Kaserne dagegen braucht niemand mehr. In ihren großen, für Appelle und hallige, louisarmstrongmäßige Befehlsschreie gedachten Fluren stehen noch die russischen Bezeichnungen aus der Besatzungszeit. Wenn ich noch länger dorthin gehe, entdecke ich im Keller vielleicht auch noch die Uniform eines toten Wehrmachtshauptmannes. Oben kochen meine Ostafrikaner ihre scharfen Saucen und brutzeln deutsche Hühner zu äthiopischen Kostbarkeiten um. Wie der Professor aus dem Buch erhalte ich als einziger Besteck, ich kann die Suppe nicht mit dem Brot, das injera heißt, essen. Eine weitere schöne Parallele sind die Autofahrten. Die Menschen, die uns an der Kreuzung stehen sehen, vier Schwarze und ein verrückter weißer alter Mann, verstehen die Welt nicht mehr. Und damit haben sie recht: es ist schwer zu verstehen, dass die Welt sich gerade wieder, vielleicht wirklich aller fünfzig Jahre, in einem Umbruch befindet. Wir wissen es nicht, aber vielleicht bringt dieser Umbruch wieder einen Schub Gerechtigkeit. Der fiktive Professor und der reale Dorfschullehrer hören jedenfalls die gleichen Geschichten aus West- und aus Ostafrika: jeder Cent, der hier durch Sparen und billigstes Essen übrig bleibt, wird nach Hause geschickt. Dort muss eine Schwester aus dem Gefängnis in Libyen freigekauft werden, hier wird ein Stück Land für die ganze Familie in Ghana gekauft.

Im Roman, den ich nicht gleich gelesen habe, weil mein Vorurteil gegen dokumentarische Literatur manchmal Zeit haben will, wird ganz deutlich der Gewinn gezeigt, denn wir alle von den Flüchtlingen und überhaupt von allen Migranten haben: die Welt, die wir als Erfahrung brauchen, kommt zu uns. Migration ist so gesehen ein Pizzadienst der Weisheit. Unser Sinnvakuum füllt sich langsam, nicht ohne Rückschläge auf. Das überflüssige (ich hoffe, dass die mitlesenden Ökonomen das leicht verachtende Wortspiel erkennen) Geld wird sinnvoll unter die Menschheit gebracht. Die Umweltkatastrophe, die durch unsere maßlose Energieverschwendung beschleunigt wird, kann durch die Aufnahme von Menschen aus anderen Weltgegenden abgebremst werden. Die Besinnung auf traditionelle Techniken könnte dies noch unterstützen, zum Beispiel Fahrräder aus Bambus, die in Ghana hergestellt werden. In Westafrika gibt es begnadete professionelle Autobastler, die aus von uns aufgegebenen Ruinen keine Nobelkarossen, aber doch fahrtüchtige Flitzer machen. Aus Ostafrika kam einst der Kaffee und kommt er noch, aber wir, die wir ihn lieben, verachten seine Erfinder. Vielleicht war der Finder des Kaffees wirklich ein Ziegenhirt in der äthiopischen Provinz Kaffa, der beobachtete, dass seine Ziegen munterer waren, wenn sie von einem bestimmten Strauch gefressen hatten. Auch er konnte in der Mittagssonne eine Aufwachdroge gut gebrauchen.

Gestern war ich im Heim verabredet, aber es war niemand da. Später wird eine Botschaft nach der anderen bei Facebook eingehen. In der Küche brutzelte ostafrikanische Köstlichkeit und ein Baby schrie. Und zum zweiten Mal merkte ich, dass sich schwarze Babies (a boy or a girl?) von alten weißen (stupiden?) Männern gern und gut beruhigen lassen. Die Mutter freute es.

Unsere Welten sind offensichtlich nicht nur kompatibel, sondern komplementär. Wenn jeder einen Flüchtling aufnähme, gäbe es keine mehr. Und in noch einem Punkt geht es mir und sollte es uns allen wie dem alternden Professor in dem Roman gehen: Ich kenne nur Sympathisanten. Die Gegner haben sich alle ins Internet verzogen.

Jenny Erpenbeck, GEHEN, GING, GEGANGEN, Roman, Knaus 2015

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Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 12.02.2017 22:25:11

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