Weil sie fühlte oder ahnte, dass Faust ein Repräsentant einer anderen oder neuen Welt sei, stellte ihm Gretchen, bevor sie sich mit ihm einließ, gerade weil von ihm der Reiz des neuen Systems ausging und trotz seines beträchtlichen Alters, er war vierzig, die Frage nach seiner Kompatibilität mit der alten, bürgerlichen Welt ihrer Herkunft. Faust antwortete bekanntlich mit einer völlig neuen, erstmals das Individuum in den Mittelpunkt stellenden Gottessicht: Gott ist die Assistenz zur Güte. Die heutige Entsprechung wäre der Turing-Test: würden wir in einem Dialog zwischen Mensch und Maschine die Maschine erkennen? Schon Weizenbaum, der das erste Dialogprogramm für einen Computer fand (ELIZA), kritisierte nicht nur die Schwachstellen der Maschine, sondern auch der beteiligten Menschen. Die machten nämlich, vor über fünfzig Jahren, denselben Fehler wie der Teslafahrer vor einigen Wochen, der mit seinem selbstfahrenden und selbststeuernden Mobil in einen Sattelzug raste und wie jene Fahrer, die mit einem herkömmlichen Navigationsgerät, wenn sie von Bochum nach Düsseldorf wollen, in Prag merken, dass etwas schiefgelaufen ist. Der Turing-Test, der der Gretchenfrage so ähnlich ist, bannt die Angst vor der Übermacht der Assistenzsysteme. Diese Angst überbetont die Kollateralschäden neuer Systeme, zum Beispiel des Buchs, der Eisenbahn oder des Automobils, und projiziert oder stilisiert sie zu neuen Feinden der Menschheit. Dabei ist seit der Antike klar, dass wir Menschen uns höchstens selbst im Weg stehen. Wir verbrennen und kreuzigen jene, um noch einmal Faust zu zitieren, die uns wirklich und durch Vorlaufen Wege weisen wollen und verherrlichen andere, die als dümmliche und statische Wegweiser immer nur die Vergangenheit beschwören können. Deshalb wirken ihre ohnehin schon schwächlichen Argumente wie eine broken record, die seit fünfhundert oder noch mehr Jahren dudelt.
Am Montag vergangener Woche fand in der European School of Management and Technologies, einer Privatuniversität im ehemaligen Staatsratsgebäude, ein vom rbb organisierter und durchaus hochkarätiger Dialog statt, auf dem die pro- und die contra-Seite mit prominenten Befürwortern und Gegnern der Künstlichen Intelligenz besetzt war. Auch ein echter Obermitarbeiter, principal scientist, von Google sprach einführende Worte, durch die man endlich bemerkte, dass es Google wirklich gibt und dass es aus echten Menschen und echten Milliarden besteht. Viele Menschen halten ja Google und Facebook, aber auch GPS für eine transzendente, höhere, nicht aber wirkliche Wirklichkeit. Deshalb ist es wichtig, dass man, wenn schon nicht Lord Zuckerberg persönlich, so doch hin und wieder Menschen sieht, die diese virtuellen Räume herstellen. Nicht jeder von uns hat das Glück, in der Familie einen Informatiker zu haben, der den Computer reparieren und nebenher den Turing-Test erklären kann.
Die Fragestellung war schon etwas religiös gehalten, ob nämlich die künstliche Intelligenz mehr Fluch oder mehr Segen für die Menschheit ist. Die Pferde und die Kutscher haben vielleicht das Automobil als Fluch empfunden, aber man muss sich heute ernstlich fragen, ob die Pferde wirklich glücklich waren, wenn sie schwere Wagen, beladen mit Bierfässern und mit Kohle, durch Straßen aus Sand und Kopfsteinpflaster gezogen haben, als sie Straßenbahnen schleppten und Menschen, die sie schlugen, trugen, als ihnen mehrstöckige Ställe, zum Beispiel in der Berliner Schwedenstraße, gebaut wurden, in denen sie gegen jeden Instinkt, nach oben geführt wurden, denn das Pferd ist ein Fluchttier. Und wenn sie ein Leben lang für den meist undankbaren Menschen geschuftet hatten, wurden sie zu Bouletten und Mänteln verarbeitet. Ist das Glück des Sklaven, behütet und versorgt, aber unfrei zu sein, noch heute ein Ideal? Andererseits bringt das Pferdesubstitut Automobil bestenfalls eine falsche Freiheit, deren andere Seite die Abhängigkeit des Menschen von der Arbeit, vom Öl und vom Straßensystem immer größer wird, seine Verantwortung, diesmal nicht in Bezug auf lebende und fühlende Wesen, sondern auf die Belastung der Atmosphäre proportional zu seiner Freiheit wächst, die sich zum bloßen Gefühl degradiert. Das Öl der Zukunft sind die Daten.
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Zum Glück für die Veranstaltung war die populistische Kapitalismuskritikerin mit dem Luxemburglook verhindert, sonst hätten wir zum siebenhunderteinunddreißigsten Mal erfahren können, dass die künstliche Intelligenz nur den Banken dient und deshalb mit diesen abgeschafft gehört. Der Kapitalismus wird von ihr erst personifiziert und dann verteufelt. Das ist schon rhetorisch fragwürdig, philosophisch aber überhaupt nicht haltbar, denn er ist eine Methode und der Computer ist sein Assistenzsystem. So erscheint sie wie die prominenteste Reichsbürgerin, gefangen in einem schönen Paradox: sie bekämpft das System und verdient dabei gut. Statt dessen erläuterte eine eingesprungene ebenfalls prominente Grüne, die vor ein paar Wochen Menschen besucht hat, die ihr Hassbotschaften geschickt hatten, dass für sie künstliche Intelligenz erst nach der Schaffung eines Rechtssystems akzeptabel sei, so als ob es bei uns einen Mangel an Rechtssicherheit gäbe und ausgerechnet die Grünen ihn entdeckt hätten. Eine Professorin aus Wien war stolz auf ihr Buch, das neunhundert Fälle von Datenmissbrauch auflistet. Sie glaubt ernsthaft, dass die Menschen ihr Buch kaufen, weil sie das System durchschauen und ablehnen wollen. Und wir sollen ihr glauben, dass sie das Buch geschrieben hat, weil sie die Wahrheit kennt und nun unter das unwissende Volk bringen will, nein, muss. So funktioniert Populismus auch ohne Wagenknecht und Petry, und wie sie alle heißen mögen. Der auch auf dieser Seite des Podiums anwesende Bischof wirkte so dümmlich wie Luther gegenüber Zwingli in Marbach im Jahre 1529. Dort argumentierte Luther rein autoritär. Das Hauptargument des gegenwärtigen Bischofs, dass die Maschinen vielleicht Intelligenz, aber kein Gewissen hätten, lässt sich in mindestens zwei Richtungen falsifizieren. Erstens nützt einem das Gewissen wenig, wenn man sich in Mordsysteme einbinden lässt, von den Kreuzzügen bis zum zweiten Weltkrieg war das Gewissen der Christen auf Null gesetzt. Und zweitens führt ein Gewissen ohne Intelligenz auch nicht zum Ziel. Der Bischof jedenfalls wurde aus dem Publikum zurecht scharf attackiert und hatte dem nichts entgegenzusetzen: da stand er nun und konnte nicht anders als dieses eine Scheinargument zu wiederholen wie eine broken record.
Dagegen wirkte die Befürworterseite quicklebendig und konnte ihr Konzept von der Assistenz durch die Maschinen, von der Befreiung von stupider Arbeit, von der Maschine als bloßer Nachahmung menschlicher Intelligenz, von der Widersprüchlichkeit aller Perfektion, von dem Aberglauben, dass die Maschinen die Macht übernehmen könnten, beinahe möchte man sagen: undsoweiter undsoweiter überzeugend darlegen. Jedem, der Kinder oder Flüchtlinge dabei beobachtet hat, wie sie Sprache lernen, und der auf der anderen Seite schon einmal den Googleübersetzer benutzte, weiß, dass von der Maschine keine Gefahr ausgeht. Trotzdem gewannen die Gegner in der Abschlussabstimmung Prozentpunkte, wenn auch nicht die Mehrheit.
Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass sich Zellen, Wahrheiten und Software, sobald sie manifest sind, zu teilen beginnen. Bei den Zellen begrüßen wir es, bei der Software verstehen wir es nicht und bei den Wahrheiten glauben wir immer wieder und immer wieder, dass es sie gäbe. Wir glauben immer wieder, dass der gegenwärtige Stand der Dinge der letzt- und immergültige sei. Statt dessen ist es wohl eher so: Das Fernsehen ist wie ein vertrautes Wohnzimmer, aber der Computer ist der immer noch verpackte Fernsehapparat, der in der Diele steht.