Wer durch seine Taten behindert ist, wird durch seine Herkunft nicht beschleunigt.
an-Nawawi [1233-1277], Hadith 36
Die Herkunft erscheint uns lange als sicherer Ort, ja, als sicherster. Wenn wir einsam sind, wenn wir in Massen unterzugehen scheinen, dann ist es die Herkunft, die uns tröstet und führt. Unsere Eltern und der Ort unserer Geburt scheinen gewiss.
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Die Unsicherheit der Vaterschaft war der Ausgangspunkt des fünftausend Jahre währenden Patriarchats. Die dazu passende Legende haben wir hier schon oft erzählt: Zeus hatte Lust auf die glücklich verheiratete Leda. Also näherte er sich ihr als Schwan und schwängerte sie. In der gleichen Nacht wohnte ihr aber, um es biblisch und antik auszudrücken, auch ihr Gatte Tyndareos bei, so dass die Zwillinge, die sie gebar, teils göttlicher, teils menschlicher Abstammung waren, wie wir alle. Als der große Sexforscher Alfred Kinsey 1948 und 1954 seine ersten großen Studien fertig hatte, stellte sich heraus, dass im prüden und angeblich streng monogamen Amerika zehn Prozent aller Kinder nicht vom Ehepartner ihrer Mutter stammten, ein Drittel der Menschen waren nicht treu. Im Nachkriegsberlin gab es einen sechzehnjährigen Jungen, der sich darauf spezialisiert hatte, die Gattinnen der fernen Helden zu befriedigen, die ihm oft schon beim Essen unter dem Tisch die Hose öffneten. Nach seinen eigenen Angaben soll er so 1000 Frauen heimgesucht haben. Sicher ist er oft Vater geworden. Das Ergebnis des strengen Patriarchats ist also Chaos, das Erbe geriet allzu oft in falsche Hände. Wir alle sind mit großer Wahrscheinlichkeit falsch, weil es ein richtig nicht gibt.
Über die Unsicherheit der Mutterschaft gibt es ebenfalls eine jahrtausendalte Legende, und zwar sowohl im nahöstlichen wie im fernöstlichen Kulturkreis. Brecht gab der Geschichte in seinem Kaukasischen Kreidekreis sogar noch ein klassenkämpferisches Attribut, in dem die eine Mutter ihren Reichtum als Argument einzusetzen versucht. Die hohe Säuglingssterblichkeit, die in Zeiten des Hungers oft als Segen empfunden wurde, war manchmal auch oft schmerzlich. Und so führte das enge Zusammenleben der Menschen vielleicht zum Streit unter zwei Müttern über die Mutterschaft, zumal es früher kein sicheres Erkennungszeichen jenseits der Muttermale gab. Jedenfalls ließ sich der große König Salomon, als zwei Mütter sich um das eine überlebende Baby stritten, ein Schwert kommen und drohte die Teilung an. Dank seiner Weisheit stellte sich heraus, dass Liebe und besitz sich ausschließen: die wahre Mutter verzichtete zugunsten ihres Kindes auf die königliche Anerkennung ihrer Mutterschaft, die ihr aufgrund ihres Verzichts dann zugesprochen wurde. 1995 und 2014 sind in Südafrika zwei Fälle von unfreiwilligem Müttertausch bekannt geworden. Beim zweiten Fall möchte die eine Mutter ihre leibliche Tochter wiederhaben die andere möchte die bei ihr sozialisierte behalten. Zur Lösung brauchte man einen neuen König Salomo.
Babyklappen gibt es mindestens seit dem Mittelalter. Trotzdem kann man jetzt einwenden, dass das alles nur Einzelbeispiele und Ausnahmen sind, aber das gilt nur, wenn man lediglich eine Generation betrachtet. Das menschliche Chaos wird größer, wenn man den Beobachtungszeitraum erweitert. Daran ändern auch nichts die biblischen und adligen Genealogien. Sie sind Märchen, wenn auch die erste Fiktion eine Abbildung von Taten war.
Wir können uns auf unsere Herkunft weder verlassen und noch berufen. Wir sind wie Blinde auf dem Seil. Jedes Tun, jede Tat und vor allem jede Untat ist riskant und kann gegen uns verwendet werden. Die Einteilung der Menschen in Gruppen ist nichts als eine unzulässige Verknüpfung von Herkunft und aktueller Tat. Dagegen wendet sich der weise islamische Gelehrte, dessen Auslegung des Korans und der überlieferten Lehren des Propheten Mohammed vor allem zwei Erkenntnisse zeigen: alles ist Auslegung und alles ist menschlich. Die Tat kann zur Untat werden, und wir können uns dann nicht auf die Taten unserer Vorfahren berufen. Die Anerkenntnis, dass früher fast alles schlechter war, weil differenziertes Denken durch Hunger, Pest und Krieg oft verhindert wurde, fällt uns schwer, weil wir nach Sicherheit auch jenseits des Glaubens und des Sozialstaats suchen. Der mathematische Ausdruck für die Minimierung des Risikos durch große Mengen von Menschen, 1/√n ähnelt für Nichtmathematiker dem Seitenverhältnis unserer Papierformate 1/√2. Die philosophische Abstraktion ist nicht mehr der mathematischen gleich. Die Philosophie befasst sich, obwohl ihr in den letzten hundert Jahren Hilfswissenschaften wie die Soziologie oder die Anthropologie beigesellt wurden, zu sehr mit Alltagsproblemen.
Wenn also Taten und vor allem Untaten nicht durch die Herkunft getilgt werden können und die Herkunft niemanden beschleunigen kann, es also keine auserwählten Menschen, Völker, Nationen, Religionen, Hautfarben geben kann, dann ist die Tat, so wie es im ‚Faust‘ steht, das einzige Unterscheidungsmittel. Aber jede Tat für die Menschheit, und sei sie noch so klein, erhöht gleichzeitig die Qualität des Allgemeinmenschlichen, des Guten, Edlen und Hilfreichen. Wer also sich durch seine Herkunft nicht behindern lässt, kann durch seine Taten beschleunigt werden. Statt über Herkünfte und Regeln zu brüten und zu grübeln, sollten wir einfach mehr tun als uns immer nur mit uns selbst zu beschäftigen. Man erkennt sich im anderen schneller als man denkt. Jedes Aufeinanderzugehen beschleunigt die Liebe. Gerade dass wir die Welt als zu schnell empfinden und ‚entschleunigen‘ wollen, was wir zu einem neuen Modewort gemacht haben, zeigt, dass wir zu langsam sind in bezug auf die Globalisierung von Menschlichkeit, von Gefühl, von Denken. Lebensretter, bei den Türken sogar ein Familienname Cankurtaran, zeigen, dass man im entscheidenden Moment nicht zögern darf. Die Welt wird gerettet durch das tiefe Denken und die schnelle Tat. Das Risiko bei beiden ist gleich hoch, weshalb wir beides scheuen.
Vielleicht sollten wir uns statt des Namens unserer unsicheren Mutter und unseres noch unsichereren Vaters lieber die Formel für die Risikominimierung auf die Stelle unserer Haut tätowieren lassen, wo wir früher eine Uhr getragen haben. Inzwischen kann eine ganze Generation mit einer analogen Uhr kaum noch etwas anfangen., was die Konzentration auf das Hier und Jetzt fördert. Die Suche nach der verlorenen Zeit behindert unseren Tatendrang.
Wer sich durch seine Herkunft nicht behindern lässt, kann durch seine Taten beschleunigt werden.