Nur in der Kleinstadt gibt es nur eine Wahrheit. Jeder Großstadtbewohner weiß, dass schon sein Nachbar anders denkt. Trotzdem gibt es Menschen, deren Glück darin zu bestehen scheint, andere zu beschimpfen. Jeder sieht die Welt nur mit seinen Augen, insofern versagt Empathie, aber das ist kein Grund zu glauben, dass es nur eine Blickrichtung, nur eine Wahrheit, nur einen Schluss gäbe. Das ist nicht neu, wird aber durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten verstärkt und verschärft. Jeder kann sich jetzt einen Raum schaffen, in dem nur seine Wahrheit gilt, das war früher ein Privileg der Eliten, die im Besitz der Kanzel oder des Katheders waren. Demokratisierung und Industrialisierung erzeugten auch einen neuen Schub der Proletarisierung, der sich im Nationalismus genauso Bahn brach wie im Kommunismus. Die Nationalisten, deren tatsächliche oder propagandistische Angst dem Islam gilt, scheuen sich nicht davor, Saudi-Arabien als Vorbild für Patriotismus zu benennen. Die Salonkommunisten preisen die Bankenenteignung. Weichgespülte Rentner auf den Antillen fordern die neue Härte. Das ist alles absurd. Das wäre alles lächerlich, wenn nicht zur gleichen Zeit auf dem Mittelmeer Menschen ertränken, die leicht gerettet werden könnten.

2015 haben die deutsche Bundeskanzlerin und eine große Mehrheit aller Bewohner Deutschlands gezeigt, dass es für reiche Länder ein leichtes ist, eine Million Menschen aufzunehmen, zu versorgen und – wie in einem Crash-Kurs – mit den notwendigen Kenntnissen zu versorgen. Die Frage, ob man sich rückwirkend sozialisieren kann, ist nicht leicht beantwortbar. Sie wird vielmehr einerseits von dem Willen und den Fähigkeiten abhängen sich zu integrieren, andererseits von den ganz konkreten Umständen, den Nachbarn, den Lehrern, den Bearbeitern in den Jobcentern, Arbeitsagenturen und Ausländerbehörden. Wir alle haben schon von einem Menschen gelesen, der gerade deswegen abgeschoben wurde, weil er bestens integriert und demzufolge für die Behörden leicht erreichbar war. Demokratie und eben auch Integration beginnen, wie schon Alexis de Tocqueville wusste, mit der funktionierenden Mailbox. Es gibt Länder, in denen Tellerwäscher gesucht werden, egal welcher Herkunft. Zum Tellerwaschen braucht man keine Sprache. Aber wir leben in einem Land, das von einem Minimum an Gemeinsamkeit ausgeht, von einem Minimum der Überwindung von Babel. Die Sprachwissenschaftler wissen: je größer die Notwenigkeit des Zusammenhalts, desto größer der Sprachraum. Babel ist ja nicht nur das Symbol für die Sprachverwirrung als Strafe für Hybris, sondern auch die Metapher für Ungerechtigkeit, Sittenlosigkeit und Unmenschlichkeit: zwei Millionen Bürger unseres Landes fahren pro Jahr mit einem Kreuzfahrtschiff. Aber wir alle sehen zu, wie auf dem Mittelmeer, das mit Booten gekreuzt wird, die in allem das genaue Gegenteil eines Kreuzfahrtschiffes sind, Menschen in den Tod kreuzen.

Flucht ist ein höheres Risiko als Bleiben. Auf dieser Flucht sieht jeder Flüchtling dieses Risiko: er sieht Gewalt, Folter, Hunger, Durst, Vergewaltigung und Tod. Je mehr er aber davon sieht, desto größer wird sein Risiko, wachsen aber auch sein Mut und seine Kraft, durch dieses ‚Meer von Plagen‘ zu gelangen. Wer also die Überfahrt schafft, ist nicht nur stark, sondern auch gestärkt. Wer ein solches Boot überlebt hat, den kann nichts mehr schrecken. Eine kleine Minderheit, sie ist genauso groß wie in jeder autochthonen Bevölkerung, setzt die gewonnene Energie in Kriminalität um. Überall gibt es die trügerische Hoffnung auf das schnelle Glück und das schnelle Geld. Aber die meisten Menschen wissen sehr wohl: im Lotto kannst du nichts gewinnen, aber mit einem Lächeln kannst du alles gewinnen. Da die Statistik jeweils auch von einer neuen Gesamtbevölkerung ausgeht, hat die Kriminalität also nicht zugenommen. Für die Neubürger entsteht durch das racial profiling vielleicht sogar der Eindruck eines Polizeistaates und damit überdurchschnittlicher Respekt vor der Polizei. Viele Polizisten wirken dem aber durch besondere Freundlichkeit bewusst und erfolgreich entgegen. Diese kriminelle Energie ist die gleiche, die ab 1444 Kaufleute bewog, die Definition von ‚Mensch‘ zu ändern, um gleichzeitig Christ und Verbrecher sein zu können.

Jede Migration ist also ein Gewinn für die Migranten und für das Zielland. Allerdings kommen weltweit noch einige Probleme auf uns zu, die wir gemeinsam lösen müssen. Das bis 2050 anhaltende Bevölkerungswachstum in Afrika, Asien und Lateinamerika wird bei gleichzeitiger Digitalisierung der Produktion die Sinnkrise verschärfen. Die Lösung liegt nicht in China. China könnte vielmehr leicht zu einem weiteren Teil des Problems werden, wenn auch viele heute eher die Bedrohung durch Konkurrenz sehen. China hat weitaus mehr Geld verborgt, als es einlösen kann. Die Lösung liegt nicht in einem Land oder einem Wirtschaftssystem.

Keine Religion und keine Philosophie hat es bisher geschafft, uns zu einer Veränderung unseres egoistischen Verhaltens zu bringen. Die Versicherungsformel, dass das individuelle Risiko desto kleiner wird, je mehr Menschen sich an der Vorsorge beteiligen, bringt uns auf die realistischere asymptotische Vorstellung, dass wir unser verhalten ändern müssen, aber dass es gerade deshalb auch kein vollständiges Glück geben kann. Es wird immer getrübt sein durch das Unglück anderer, das wir nicht verhindern, wohl aber vermindern können. Wir müssen lernen uns so zu verhalten, als wären wir der andere. Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach und auch nicht ganz neu:

mehr geben als nehmen, mehr lächeln als zürnen, mehr verzeihen als Verzeihung wollen, mehr lieben als strafen oder ausschließen,

und davon sind alle Religionen und Philosophien voll, wir haben es nur immer übersehen oder übersehen wollen. Die neue Glücksformel ist die alte.

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