Im Dreieck zwischen der B 167, dem Finowkanal und der Eisenbahnlinie Berlin-Stralsund liegt eine malerische Industrieruine, die von Carl Blechen, der nicht weit von hier tatsächlich gemalt hat, erdacht worden sein könnte. Es ist die erste und einzige Hufnagelfabrik Deutschlands. Die Villa des einstigen Unternehmers ist in einem winzigen Urwald verschwunden, der wohl ein Park war und nun sehr erfolgreich versucht, den Primat der Natur wiederherzustellen. Kulturhistorisch ist es sicher eine Schande, dass solche Orte erst verfallen und dann verschwinden. Andernorts gibt es Bürgerinitiativen, die versuchen, einen Sinn für Ruinen außerhalb rein musealer Vorstellungen zu schaffen. Aber so viele Räume werden nicht mehr gebraucht. Wir halten uns lieber in überheizten und überhitzten Einkaufszentren auf.
Im Jahre 1869 erfand ein deutscher Unternehmer namens Clemens Schreiber eine Maschine zur Herstellung der bis dahin handgeschmiedeten Hufnägel. Es gab zu diesem Zeitpunkt Millionen von Pferden, die Milliarden von Hufnägeln verbrauchten, mit denen die Eisen auf den Hufen der Tiere befestigt wurden. Das typische Geräusch der schnell wachsenden Städte war das Klappern der Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster. Wenn man das Aussterben der Pferde als Zugtiere beklagt, muss man sich gleichzeitig fragen, ob diese Pferde glücklich gewesen sein können. Wenn man allerdings schon nach dem Glück der Pferde fragt, darf man sich auch die nicht sehr zufriedenen Menschen vorstellen. Vielmehr kämpften sie mithilfe der SPD und ihrer Bildungsvereine für den Achtstundentag, die Gleichberechtigung der Frau und für den ihren Aufstieg durch Bildung.
Wenige Jahre nach dem Aufstieg der Hufnagelfabrik begann der Siegeszug des Automobils, das zunächst für ein gefährliches Luxusgut und für einen Pferdemörder gehalten wurde. Die Perfektion eines Systems kann als sicheres Anzeichen für sein Ende gesehen werden. In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verlor das Handwerk als produzierendes Gewerbe endgültig seine Bedeutung. Noch hundert Jahre bestand es als Dienstleister fort, um jetzt als Modulaustauscher einer Wegwerfgesellschaft einen weiteren Wertewandel zu erleben. Ausgerechnet der Pferdemörder Automobil wurde zum Symbol von Freiheit und Bildung. Deshalb fällt der Abschied jetzt so schwer. Vielleicht sterben das Automobil und die Sozialdemokratie gemeinsam, aber nicht, weil eine sich Alternative nennende Partei eine bessere Lösung wüsste oder wäre, sondern weil das Automobil und die Sozialdemokratie selbst einen Perfektionsgrad erreicht und eine Perfektionierung der Gesellschaft geschaffen haben, die ihren Tod bedeuten. Die Gesellschaft dagegen sucht sich einen neuen Fetisch und ein neues Ziel.
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Der Philosoph dieser Entwicklung war nicht, wie wir lange annahmen, Karl Marx mit seiner obsiegenden Arbeiterklasse, und schon gar nicht Houston Stewart Chamberlain mit seiner obsiegenden Bleichrasse, auch nicht Johann Heinrich Wichern mit seiner Rückkehr zu einer obsiegenden Glaubensmasse, sondern es war der nach dem Preußenkönig benannte Friedrich Wilhelm Nietzsche, der die Umwertung aller Werte voraussagte und nicht mehr an den Sieg irgendeines Prinzips glauben machen wollte. Sein oft missverstandener neuer Typ war nicht der Übermensch einer Klasse, einer ‚Rasse‘ oder eines Glaubens, sondern der flexible fitte Leser.
So wie aber das Werk jedes Philosophen voller Widersprüche und Widerworte ist, wir erinnern an Hegels Afrikabild und Adornos falsches Leben, so scheinen im Leben der Gesellschaft nicht nur Höhen und Tiefen, sondern auch Perfektionen und Zusammenbrüche auf. Kein Wunder also, dass so viele Menschen unbelehrbar und immer wieder auf monolithische fehlerfreie Blöcke des Wissens und des Seins hoffen. Immer noch träumen so viele Menschen von Definitionen und Wahrheiten und schlüssigen Erklärungen, weil es sie so viele Jahrhunderte lang tatsächlich zu geben schien. Es wäre schön, wenn es sie gäbe, wer hat das nicht schon auch gedacht? Aber sie sind vergänglich, sie sind eitel und Asche im Wind, wie es schon beim weisen König Salomo heißt.
In der derzeitigen Krise sowohl der Demokratie als auch des Diskurses, die vielleicht aber auch nur die Vorbereitungsphase zu einer neuen Stufe des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ist, geht es merkwürdigerweise nicht darum, Argumente auszutauschen, sondern sich seiner Gruppe und seiner Zugehörigkeit zu versichern. Man redet sozusagen nicht nach vorne zum angenommenen Gegner, sondern nach hinten zum eignen Stall und erfreut sich am zustimmenden Blöken. Wer so fühlt, glaubt sich immer noch in einer abgegrenzten Schafherde, hat von einer Umwertung aller Werte noch nichts bemerkt. Vor allem können wir nicht genau wissen, was und wohin von uns umgewertet wird. Die Zutaten mögen schon bereitliegen, aber wir kennen den Kuchen noch nicht, der offensichtlich auf uns wartet.
Vielleicht könnten die beiden folgenden Vorschläge helfen, uns Menschen in unserem Festigkeits- und Sicherheitswahn zu erschüttern:
Es sollten Gedenkstätten des Zerfalls geschaffen oder Ruinen in der Absicht des Gedenkens aufgesucht werden. Ruinen sind Gegenstücke zur Fiktion, auch in ihrer Sonderform als Vision: verzerrte Wirklichkeiten mit didaktischer Absicht. Der große Häfner* mag uns die Ruinen hingestellt haben, in dem Sinne wie Hölderlin einst vom zerstörten Palmyra erzählte, das man schon wieder beklagen muss. Aber: es wird immer etwas fehlen, das zerstört wurde. Der Wiederaufbau mag ein Trost sein, ein utilitaristisches** Darüberhinweggehen, wir jedoch müssen mit dem Verlust zu leben lernen. Man kann nicht alles einfach zukleistern. Das widerspricht nicht der Notwendigkeit von Neubau und Neukonstruktion, zu der es Mut, Zuversicht, Kreativität und Jugend braucht.
Es sollten kleine Kompendien zuhauf gedruckt werden, wie sie die deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg mit in den Tod nahmen, in denen sie zum Heldentum aufgerufen wurden, genauso wie die Millionen Chinesen, die mit der Mao-Bibel heldenhaftes schaffen sollten, aber Opfer wurden, weil sie geopfert wurden. Allein Salomos und Nietzsches Gedanken enthalten dutzende und aber dutzende Hinweise zur Vergänglichkeit, Shakespeares Frühstück, bei dem man nicht isst (!), sondern gegessen wird, kann gleich auf dem Titel stehen. Es müssen alle Denkperioden der Menschheit und alle Richtungen ausgesucht werden, damit schon in den Zitaten die Widersprüche der wirklichen Welt deutlich werden. Sowohl die Abbildung der widersprüchlichen Welt kann nur in lauter Widersprüchen bestehen, wie auch die Denker sich selbst widersprachen und widerriefen. Adenauers schöner Satz ‚Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern‘, der immer negativ zitiert wird und als Zeichen der Treulosigkeit der Politiker genommen wird, sagt genau das, was wir lernen sollten: von gestern ist nicht soviel zu lernen. Trotzdem gibt es übergreifende Weisheiten, die zu allen Zeiten galten und gelten werden.
*Häfner süddeutsch für Töpfer, in Barockgedichten Gottesmetapher, hier im Sinne des Demiurgen, des personalisierten Prinzips, das die Welt schafft und leitet, aber der Nachteil dieses [Hegelschen] Prinzips ist, dass man daran glauben muss
**nur auf den Nutzen bedacht