[Man verliert eine Heimat nach der anderen. JOSEPH ROTH]
Früher war alles gut. Früher war alles sicher. Selbst die Menschen, die im bitteren Winter 1945 bei minus 20 Grad über die Kurische Nehrung vor den Russen, die sie als Monster und Schicksal angesehen haben, geflohen sind, empfinden ihre davor liegende Kindheit als Idylle. Schuld ist als Projektion immer fern und stark, Idylle dagegen nah und schwach. Die Menschen, die heute auf Nussschalen über das Mittelmeer kommen, werden trotz ihrer offensichtlichen Hilflosigkeit als Bedrohung gesehen. Beide Gruppen wurden und werden als Fremde beschimpft und gedemütigt. Tatsächlich ist jemand, der unter widrigen Umständen vor Gefahr und Chaos flieht, stark und ein anderer, der sich hinter Staat und Tradition verbirgt, schwach.
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Die Menschen im Nordosten wählten aber nicht eine autoritätsaffine Partei, weil sie besonders viel Angst vor den wenigen Fremden in ihrem bevölkerungsarmen Land haben. Vielmehr wirkt in ihnen besonders der sechsmalige Wechsel eines Staatssystems als Verlust des Staates. Das gleiche Gefühl gibt es aber auch in Norwegen, wo seit 100 Jahren der gleiche Staat und die gleiche Familie (sogar die Familie wie in Dänemark) herrscht. Im Bewusstsein derjenigen Menschen, die der Demokratie misstrauen, herrscht der Staat eben nicht mehr. Je mehr Demokratie es in einer Gesellschaft gibt, desto weniger Staat muss es geben. Da aber der Staat große Teile der einst rein religiösen Barmherzigkeit als Sozialstaat adaptiert hat, wirkt er gerade in jenen bevölkerungsteilen noch omnipotent, die sowohl wirtschaftlich abhängig als auch bildungsfern sind. Es besteht sogar ein Kausalzusammenhang zwischen der Abhängigkeit und der Weigerung zu lernen. Die Gegenleistung für soziale Absicherung oder Barmherzigkeit war in autoritären Systemen die Akzeptanz der Strafe. In der Demokratie und im Sozialstaat ist diese Gegenleistung die zunehmende Selbstständigkeit. Dieses Verhältnis wird als asymmetrisch empfunden. Dasselbe Fünftel, das die autoritätsaffine Partei gewählt hat, ist im Rentenalter und hat früher in der Landwirtschaft gearbeitet. Der Grund für die relativ günstige Altersstruktur im Jahre 1990 war nicht die hohe Geburtenquote, sondern die niedrige Lebenserwartung durch die härteren Arbeitsbedingungen, den hohen Alkoholkonsum und die schlechte medizinische Versorgung. Als Erinnerung bleibt aber: die Zeit vor 1990 war glücklich, denn es gab Kinder, Kinderkrippen, Schulen und einen funktionierenden Staat, der ordentlich bestrafte, was zu bestrafen war. 1945, als Mecklenburg mit Flüchtlingen überfüllt war, gab es eine ähnliche Staatsnostalgie gegenüber dem nationalsozialistischen Wahn. Man verliert eine Heimat nach der anderen, schrieb der große Erzähler Joseph Roth.
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Das Gefühl belogen worden zu sein, ist aus den Untergängen beider Diktaturen überliefert. Soeben ist der einzige deutsche Wirtschaftsnobelpreisträger gestorben. Er hatte unter anderem herausgefunden, dass wir Menschen nicht rational kaufen und verkaufen, dass wir kein homo oeconomicus sind. Und obwohl das eine triviale Erkenntnis ist, gehen die meisten nach wie vor davon aus, dass sie besonders clever einkaufen, wählen und verreisen, dass wir belogen und betrogen werden, dass der Bäcker um die Ecke einen Versorgungsauftrag hat, dass die Preise ständig steigen und die Löhne kräftig sinken. Die letzten Politiknobelpreisträger Deutschlands waren Brandt und Rathenau, sie gingen nicht vom rationalen mündigen Bürger, sondern davon aus, was letztendlich für Europa gut sein wird. Das war in beiden Fällen der politische und wirtschaftliche Ausgleich mit jenen Ländern, die Deutschland im jeweiligen Krieg überfallen und ausgeplündert hatte. Der Wähler lebt vom Erfahrungsschatz seines Großvaters und von der Menschenkenntnis seiner Großmutter. Das Spannungsfeld zwischen Erlebtem und Erzähltem wird in unserem eigenen Leben nicht als Lüge erlebt, aber erst im Nekrolog logisch. Bei jedem anderen unterstellen wir aber Unwahrhaftigkeit. Dass Wahrheit nicht erreichbar ist, mag den meisten von uns dämmern, also verlangen wir Wahrhaftigkeit, die wir selbst nicht zu geben bereit sind. Mit der quantitativen und qualitativen Zunahme der Medien nehmen auch der Focus auf bestimmte Ereignisse und die Unschärfe zu. Denken wir uns kurz zurück in die Zeit, als wir HEUTE, AKTUELLE KAMERA und TAGESSCHAU nacheinander sahen. Wo war da die Lügenpresse? Was wir sehen, ist immer der statistische Schnitt aus Evidenz und Abbild gekoppelt mit der von uns projizierten Wahrhaftigkeit. Die Medien haben nicht nur aus technischen Gründen zugenommen, sondern auch, weil wir alle wesentlich mehr Freizeit haben als unsere Voreltern. Diese freie Zeit wird nun mit genau dem gefüllt, was mit ihr entstanden ist: der medialen Aufbereitung sowohl der Welt als auch unserer Unterhaltungssucht.
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Letztendlich ist die Wahl der falschen Partei durch zwanzig Prozent der Bevölkerung sogar ein Sieg der Demokratie. Diese Menschen haben vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben bemerkt, dass ihre Stimme gefragt ist und Wert hat, nicht nur in dem Sinne, dass sie einer partei ins Parlament geholfen haben, sondern auch dass sie durch die eigentlich verachteten Medien wahrgenommen werden. Das ganze Land spricht von ihnen, den Rentnern aus Vorpommern, die stumpfsinnige und schwere Arbeit in der Landwirtschaft verrichten mussten, die dafür - so glauben sie - viel zu wenig Rente bekommen, die eine geringere Lebenserwartung als alle anderen in der Republik haben und deren Enkel in Bayern und Holstein, in Westfalen und Württemberg arbeiten. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben haben sie etwas entschieden, nicht ganz freiwillig, denn die Partei, die sie gewählt haben, hat genau das gefordert, was sie fühlen. Und was sie fühlen ist eine Ablehnung der Gegenwart, ein kollektiver Widerspruch gegen alles, was vom Westen her kommt, was ihre Vergangenheit in Frage stellt, was sie nicht verstehen, weil es für sie nicht evident ist. Demokratie herrscht nicht, schrieb einst Erich Fried, und genau dieses Nichtherrschen wird hier als Mangel empfunden und soll nun, wenn schon nicht von Udo Pastörs, so doch von Gauland und Petry beendet werden. Die Flüchtlinge der Kanzlerin, die auf den Hauptstraßen der kleinen gottverlassenen Städte zu dritt auf einem Fahrrad zu sehen sind, sind dabei nur das Vehikel des Volkszorns. Man kann hier beinahe nicht anders als dieses populistische Wort von Goebbels zitieren. Denn einen Volkszorn kann es nicht geben, weil es kein Volk gibt. Wir reden hier von den Rentnern in Mecklenburg-Vorpommern, die AfD gewählt haben, das sind 20 Prozent von etwas mehr als einer Million Wahlberechtigten. Weil es das Volk nicht gibt, ist Demokratie eine so wichtige Errungenschaft. Schon zwei Menschen denken nicht mit einer Stimme, wenn sie sich auch manchmal einstimmig fühlen. Auch früher war vieles unsicher, vor allem das leben selbst. Früher war alles schlechter.