Am Rande ostdeutscher Städte findet sich oft eine Ansammlung alter Gebäude, teils verfallen, teils rekonstruiert. Es sind ehemalige Wehrmachtskasernen, und wer in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Welt hätte verstehen wollen, der hätte wissen können, dass ein Krieg bevorsteht. Aus diesen Wehrmachtskasernen ging dann der Schrecken hervor, der gar nicht im einzelnen aufgezählt werden kann, weil er biblische Ausmaße hat, nur der tausend Frauen wollen wir gedenken, die sich am 2. Mai 1945 in einer dieser kleinen Städte gemeinsam mit ihren Kindern das Leben nahmen, aus Angst vor den kommenden Gräueltaten, die auch tatsächlich kamen, weil Rache - hin und her und wieder hin, bis, so glaubte man, in alle Ewigkeit - von allen Beteiligten als passende Antwort gesehen wurde. In diese Wehrmachtskasernen zog dann die siegreiche Rote Armee ein. Aus einem unseligen Gebiet wurde eine terra incognita, eine unbekannte Zone.

Vielerorts stehen Ruinenstädte als ungewolltes Mahnmal einstiger und heutiger Verkommenheit. In einer sehr schönen kleinen Stadt hat man die Kreisverwaltung und ein OSZ in diesen doppelten Kasernen- und Unheilskomplex gesetzt, um damit das Schicksal dauerhaft zu wenden. Viele ältere Menschen, wissen gar nicht, was ein OSZ ist, als sie jung waren, gab es noch die klassische Berufsschule mit neun Zehnteln Lehrlingen als Lernenden. Ein bekannter diesbezüglicher Hoax ist der Handwerksmeister, der einen Lehrling nicht einstellen konnte, weil der beim Aufnahmegespräch nicht zwei mit zwei multiplizieren konnte, multiplizieren gar für einen Pejorativ hielt. Tatsächlich ist ein großer Teil der Handwerksleistungen in die Dumpingzone geraten, in der Lehrlinge einfach zu teuer und nicht handhabbar sind. Denn gegen die Multiplikationsschwäche spricht, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen ein Abitur macht, das natürlich auch nicht mehr das ist, was es einmal war. Wie jeder seinen Schmerz und seine Schwierigkeiten als die größten glaubt, so sind auch seine Schule und sein Abitur die schon damals denkbar härtesten gewesen. Ein OSZ hat nur noch ein zehntel Lehrlinge und der Rest sind diejenigen Jugendlichen, die vom Handwerk und von der Welt vergessen wurden und die nun Schulabschlüsse unter entspannten Bedingungen nachholen, Berufsorientierungen über sich ergehen lassen, Berufe lernen, deren Zertifikate weniger wert sind als die Lebenserfahrung, die auch auf dem Arbeitsmarkt nützlich sein kann, und die schließlich das Fach- oder Vollabitur machen, um endgültig im postmodernen Leben angekommen zu sein.

In einer anderen kleinen Stadt gibt es, gleich wenn man auf der Bundesstraße aus Richtung Süden kommt, auf der einen Straßenseite einen neuen Schulkomplex, obwohl in derselben Stadt auch schon Schulen leerstehen, und Eigentumswohnungen, auf der anderen Straßenseite eine Ruine, die schon durch ihre Farbe als ehemalige Kaserne erkennbar ist, und ein Asylbewerberheim, das durch zwei Containerbauten ergänzt wird.

In dieser Stadt gab es einst ein slawisches Heiligtum, an dessen Stelle jetzt eine im letzten Krieg zerstörte und nicht vollständig wieder aufgebaute Kirche steht, in deren Jugendkeller einst der Kommunist Wolf Biermann, dem ein Verhältnis mit Margot Honecker nachgesagt wurde, gegen den Kommunismus ansang. In dieser Stadt wurden ebenjene Slawen assimiliert, das ist die Hochform von Integration oder Inklusion, deren Heiligtum man gerade umgewidmet hatte. In dieser Stadt lebten einst geachtete und integrierte Juden, die sich selbst als Deutsche mit einer abweichenden, aber engverwandten Religion sahen. Ihre Synagoge war ein typischer neoklassizistischer Bau des neunzehnten Jahrhunderts an der Wasserpforte, wo also die Stadtmauer den Durchgang zum Wäschewaschen hatte. Heute steht dort ein Denkmal. Fast ein Jahrhundert lang lebten in dieser Stadt genau zu Dritteln Deutsche, Juden und Franzosen. Letztere waren gekommen, weil sie in ihrer Heimat aus Konfessionsgründen verfolgt und in Preußen aus ökonomischen Gründen aufgenommen wurden. Ihre Spuren sind nicht in einem Denkmal surrogiert, sondern in den Nachnamen einiger weniger Bewohner und in den Kirchengemeinden von zwei oder drei Dörfern der Umgegend. Im neunzehnten Jahrhundert dominierte die Einwanderung aus Polen. Sie hatte ihren Ursprung in den Schnitter genannten Saisonarbeitern der teils großen, hier in der Uckermark aber eher ärmlichen Güter, das sind große Landwirtschaftsbetriebe, die teilweise heute noch als ehemalige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) fortbestehen. LPG ist jetzt Autogas an Tankstellen. Einige russische Nachnamen resultieren aus der Liebe, die im ersten Weltkrieg russische Kriegsgefangene zu deutschen Mädchen empfanden. Wurden sie nach dem zweiten Weltkrieg vom NKWD gefunden, so verbrachten sie als vermeintliche Verräter Jahre im GULAG. 1930 waren in dieser Stadt von 1800 russischen Mennoniten siebzig, vor allem Kinder, gestorben, die zu Fuß aus Moskau, wo 13.000 von ihnen wochenlang den Roten Platz belagert hatten, um ihre Ausreise zu erzwingen, gestorben. Die andern zogen nach Paraguay weiter. Von den nach dem letzten Krieg in diese kleine Stadt und ihre Umgebung gezogenen Flüchtlingen erwähnen wir nur den Maler K., der auch zu Fuß aus seiner ehemaligen Heimat, der Batschka in Kroatien floh, und vor ein paar Jahren im Bestsellerroman eines bosnischen Kriegsflüchtlings, dessen Eltern inzwischen, weil sie hier nicht bleiben konnten, in Amerika wohnen, wieder auftauchte.

In dieser kleinen Stadt, in dieser ehemaligen Kaserne saß ich vor ein paar Tagen zum Kaffeetrinken in einem Raum, der mit abenteuerlichen, aber gemütlichen Möbeln ausgestattet ist, die, so berichteten mir die Bewohner, von Christa und anderen stammten, deren Namen sie nicht wussten. Im Fernsehen lief die Rede des Diktators, in der er vielleicht 1000 lachenden Jugendlichen erklärte, warum in diesem von ihm deformierten Land die Zukunft zu finden sein wird. Ein Siebtel der Bevölkerung ist vor dem Zwangsarbeitssystem, das keinen Wohlstand bringt, geflohen. Dann wurde das Fernsehen aus Höflichkeit auf einen deutschen Kanal umgeschaltet, und da lief die Tour de France, in der, ich glaube, auf Platz 81, Daniel Teklehaimanot mitfährt, und jeder, der die Tour de France schon einmal gesehen hat, weiß, was das für eine enorme Leistung ist. Sein supergutes Rennrad bekam er von dem Diktator geschenkt. Wir beschlossen, endlich unseren schon lange geplanten Ausflug zu machen, um noch mehr Refugees aus diesem Land zu treffen. Während dieser Fahrt, die inzwischen stattfand, trafen wir auf einen türkischen Dönerrestaurantbesitzer, der einen afghanischen Flüchtling beschäftigt. Wir trafen auf eine steinalte Frau, die mit ihrem Rollator jeden Tag zu dem Dönerrestaurant fährt und dort einen Kaffee geschenkt bekommt und deshalb jeden Tag zwei Euro siebzig übrig hat und glücklich in den zittrigen Händen hält. Vor dem Asylbewerberheim trafen wir einen superstolzen Romajungen aus Serbien, der in die Schule geht und wirklich sehr gut deutsch sprechen kann, ebenso wie ein Kochlehrling aus Somalia, der sich selbst, mit einem Englischwörterbuch, deutsch beigebracht hat, weil es in diesem Ort keinen Deutschkurs gab und gibt. Drei fröhliche Mamas kochten für uns Tee. An der Ostsee fuhren meine drei Refugees Riesenrad, denn der Mensch strebt immer zu dem und dorthin, was er gerade nicht hat und wo er gerade nicht ist. Auf der Rückfahrt trafen wir, wieder zufällig, mehre junge Leute aus jenem Land. Einer hieß wie der Diktator aus dem Fernsehen.

'haymatlos' ist ein türkisches Wort, so wie 'zugzwang' ein englisches ist.

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