Mit 300 Kilometern in der Stunde dahineilende Vehikel nennen wir immer noch Eisenbahnen und den Haltepunkt, der ein Gewirr von Schienen, Treppen, Läden und Restaurants sein mag, einen Hof. Das Automobil verweist auf seine Vergangenheit als Pferdekutsche, indem sein Kraftäquivalent Pferdestärke heißt. Als sich das Radio als Massenmedium ausbreitete, war es eher ein kleines Theater, und so ist der Chef eines Rundfunksenders weiterhin Intendant. Die Vergangenheit ragt also zweifelsfrei in die Zukunft hinein. Name und Design vieler Dinge von heute verweisen auf ihr Gestern. Und oft, wenn wir ein Morgen denken, geben wir ihm die Gestalt von gestern. Auch die Lösungen von vielen Problemen werden in der Vergangenheit gesucht. Aber werden sie auch da gefunden? Wir alle hängen an der Vergangenheit, weil wir die Zukunft nicht kennen. Das ist aber kein Grund, die Vergangenheit als Schutzschild zwischen Gegenwart und Zukunft zu stellen.
Wir haben auch Angst vor der Zukunft, obwohl wir nicht zugeben können, dass es die Gegenwart ist, die uns gefällt. Das sind zwei wichtige Gründe, in die Vergangenheit zu fliehen. Die politische Richtung heißt Konservatismus, und sie kam auf, als wieder einmal alle alten Werte zu brechen schienen. Die Konservativen stellen das neue gerne als Chaos, die neuen Herrscher, wenn es welche gibt, als Ochlokraten dar. Dabei stammt die Vorstellung, dass jede Herrschaftsform eine Verfallsform habe und sich so ein Kreislauf des Guten und Bösen in der Geschichte ergäbe, von dem römischen Geschichtsschreiber Polybios, der ein Ideengeber von Scipio Africanus, dem Sieger im Dritten Punischen Krieg, war. Nach dieser Theorie verfällt die Demokratie zwar zur Herrschaft der schlechtesten, aber herrschen die schlechtest möglichen Politiker eine Weile, so finden sich neue Demokraten, die unter unsäglichen Opfer den an die Herrschaft geratenen Pöbel, der sich als demokratisch ausgibt, vertreibt. Wahre Demokratie benötigt zur Rechtfertigung nur Wahlen, keine inszenierten Reichstagsbrände, Militärputsche und Bürgerkriege, die in inszenierten Volksfesten der eigenen Anhänger enden. Die Monarchie mündet nach Polybios in die Tyrannei und die Aristokratie in die Oligarchie. Viele Menschen halten die derzeitigen großen Demokratien für die Herrschaft von Oligarchen, eine Handvoll Mächtige, die die Gewinne unter sich aufteilen. Das liegt auch daran, dass keiner gerne zugeben mag, dass seine Gegenwart gerade erträglich oder sogar erfolgreich sei. Die Angst vor dem Neuen und vor dem Fremden lässt uns in die das vertraute und vergangene fliehen. Würde man das Gedankenexperiment weiter zurückgehen, so würde einem schnell klar, dass die glücklichen Sklaven, die die Feinde der Demokratie sein müssen, in Wirklichkeit Gefangene ihrer Illusion sind. Sie werten ihre Ketten zu Schmuck und Zuckerwerk auf, weil sie Angst vor der Freiheit haben. Der Mensch, schreibt der Begründer der Demokratie, wird frei geboren, doch überall liegt er in Ketten. Das Böse, erwidert der Erfinder des Konservatismus, siegt allein schon dadurch, dass oder wenn die Guten nichts tun.
Manche Gedanken sind rhetorisch so gut, dass man sie nicht aufgibt, zum Beispiel das Bild und das Wort Sonnenuntergang. Seit wir fotografieren können, sind wir in die Sonnenuntergänge ganz vernarrt. Täglich werden in die sozialen Netzwerke etwa zwei Milliarden Fotos eingespeist, davon sind bestimmt zehn Prozent Sonnenuntergänge. Und trotzdem geht die Sonne nicht unter, sondern die Erde dreht sich so, dass wir die Sonne sehen oder nicht sehen und auch den Moment zwischen Sehen und Nichtsehen sehen können. Was evident oder plausibel ist, muss noch lange nicht wahr sein, und was wahr ist, muss noch lange nicht real sein.
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So ist es auch mit Odo Marquards Slogan über das Verhältnis von Herkunft und Zukunft. Er stammt aus einen gleichnamigen Büchlein aus dem Jahre 2003 und steht dort über einem gleichnamigen Essay. Marquard versucht darin, seine Angst vor der Zukunft nicht nur in Worte, sondern überhaupt in eine Kategorie zu fassen. So erklärt er den Computer, wie es damals unter älteren Menschen üblich war, zu einer besseren Schreibmaschine. und so wie das Automobil den Begriff der Pferdestärke in sich trägt, so übernimmt der Computer die Tastatur der Schreibmaschine, jenes QWERTZUIOP, das keine Wort, kein Begriff, aber ein Inbegriff ist. Die nächste Generation der natives, der im elektronischen Zeitalter Aufgewachsenen, tut sich schwer mit Tastaturen und herkömmlichen Computern, ist eins geworden mit dem Smartphone, das zwar auch QWERTZUIOP verwendet, aber vor allem durch seine Allgegenwart, beinahe hätte ich geschrieben Omnipotenz auffällt. Es gibt eine schöne Karikatur, die den sozusagen historischen Hans Guckindieluft aus Hoffmanns Struwwelpeter zeigt, wie er träumend in den Fluss läuft, weil er abwesend ist. Aber die natives sind ja nicht abwesend, sondern auf eine ganz neue Art anwesend, die nicht mit der Schreibmaschine oder der Eisenbahn oder den Pferdestärken zu tun hat. Sie sind in einer globalisierten Welt anwesend, die keine Bücher und keine Faktenschule braucht. Diese Welt relativiert die Realität genauso wie sie sie abbildet. Sie lässt den Traum der Romantiker wahr werden, dass wir in einem kontinuierlichen Narrativ statt in der wirklichen Welt leben. Schlegel hielt es für wünschenswert, die ganze Welt zu poetisieren und eben das tut das Smartphone. Wie eine Droge ist es eine Bewusstseinserweiterung und nicht eine verlängerte Schreibmaschine. Gleichwohl leben wir also nicht in dem beginnenden Zeitalter der Allgegenwart von Kunst, sondern auch in der Epoche, in der am meisten geschrieben und gelesen wird. Und auch die Bücher bleiben erhalten und bilden ihrerseits eine Parallelwelt. Die Vergangenheit ist eine conditio sine qua non, eine Bedingung der Gegenwart und der Zukunft, aber kein Rückzugsgebiet für ängstliche, übervorsichtige oder gar rückwärtsgewandte Menschen. Wer denkt, kann nur vorwärts denken, nur wer grübelt, blickt zurück. Wer glaubt, dass Lösungen für gegenwärtige Probleme in der Vergangenheit lägen, der muss auch den Hunger, den Krieg, die Unterdrückung, die undurchlässigen Grenzen, die Verachtung, den Rassismus, die Prügel hinnehmen, die damals die Begleiterscheinung der Ordnung waren. Außerdem erscheint die Ordnung immer nur als Ordnung. Tatsächlich ist Ordnung Chaos, Auflösung und helle Aufregung. Aber im Chaos einer Menschenmenge setzt sich nicht nur der Tod durch, sondern auch die Rettung, die mit der Gefahr, wir zitieren schon wieder einen Romantiker, wächst. So vieles muss sich bessern. Aber so viele hat sich auch schon gebessert. Und so braucht Herkunft Zukunft.Hast du ein Problem gelöst, so ist der Optimismus größer als die Summe der verbleibenden Probleme.