Von Mänteln und Uhren. Eine Antwort

Noch meine Großmutter sagte gerne: das decken wir mit dem Mantel der Nächstenliebe zu, und sie meinte damit, dass wir wohlwollend wegschauen, wenn dem Mitmenschen ein Missgeschick passiert. Die Metapher ist verblasst, und viele haben den durchaus falschen Eindruck, dass heute - im Gegenteil - der Mantel eher weggezerrt und die Fehler der Nachbarn ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden. Aber der Eindruck täuscht. Das Internet wirkt vielleicht manchmal wie eine Lupe und verzerrt die ohnehin durch die Wahrnehmung schon vorverzerrte Wirklichkeit. Der Mensch ändert sich nicht so schnell wie seine Technik. Der Mantel ist als Metapher aber so ambivalent wie alle Dinge. Nimmt man zum Beispiel den in katholischen Gegenden Anfang November so beliebten Martinsmantel, so kann er bedeuten, dass dem Frierenden geholfen wird oder aber, dass jetzt statt nur einer zwei frieren. Sprache ist ungenau. Metaphern sind Umschreibungen, mein Beispiel ist immer der Weltraumbahnhof, egal Cape Canaveral in Florida, Baikonur in Kasachstan oder der merkwürdigerweise am wenigsten bekannte in Kourou, Französisch-Guayana. Obwohl das Wort, wörtlich genommen, Unsinn ist, wird es gern und weiter verwendet. Insofern war die Kritik an meiner Burka-Metapher ohnehin nicht sachlich begründet. Es gibt scheinbar inzwischen Menschen, die sich eine Wortpolizei wünschen oder sie selber sein wollen. Auch ich finde eine Burka unbequem oder vielleicht sogar schädlich, was ich jedoch eigentlich nicht beurteilen kann. Aber es gibt zwei Gründe, warum ich nicht zu den lauthalsen Kritikern gehöre: erstens bin ich kein Muslim, und die Burka geht mich nichts an. Wir sollten endlich aufhören, die Welt immer bei den andern verändern zu wollen. Man kann die Welt, und das ist leider nicht von mir, nur verändern, wenn man sich selbst ändert. Das Beispiel wirkt, da bin ich ganz sicher. Zweitens gibt es in Deutschland so wenig Burka-Trägerinnen, dass es sich nicht lohnt, darüber überhaupt nur nachzudenken. Niemand kritisiert übrigens die Burka-Trägerinnen, die am Kurfürstendamm in Berlin aus ihrem Rolls Royce steigen, um für ein paar zehntausend Euro einkaufen zu gehen. Das nennt man: die Kirche im Dorf lassen. Eine Tunika-Metapher dagegen würde man benutzen, wenn man Würde ausdrücken will, Weisheit, Rechtsbewusstsein, denn mit einer Tunika bekleidet, stellt man sich einen römischen Senator oder vielleicht sogar Seneca persönlich vor. Dabei ist Tunika auch ein Sommerkleid.

Auf der anderen Seite habe ich aber genau das gemeint: ein Vorurteil ist wie eine Burka, die man trägt, weil man keine andere Lösung kennt. Ein Vorurteil ist keine Einsicht, sondern verhindert - im Gegenteil - jede Einsicht, so wie die Versuchung bei einer Frau, die Burka trägt, gar nicht erst aufkommen kann, aber das haben - wie gesagt - ja nicht wir zu beurteilen. Das Argument, wie weit wir uns in anderen Ländern anzupassen haben, ist hingegen nur ein Scheinargument. Denn niemand will wohl hier Zustände wie im Iran oder in Saudi-Arabien. Wir wollen hier die Zustände, die wir uns mühsam erarbeitet haben. Dazu gehört auch die Toleranz untereinander. Die Toleranz gegenüber Fremden und Gästen steht schon in der Bibel. Im Alten Testament wurden dem Gast sogar die eigenen Töchter für die Nacht angeboten (1. Mose, 34,21ff.). Soweit gehen wir heute natürlich nicht mehr. Genauso merkwürdig finde ich es, wenn die Strafsysteme, darunter auch die Todesstrafe, anderer Länder als Vorbild gepriesen werden oder das europäische (meist steht da aber: das deutsche) System als lasch und wirkungslos beschimpft wird. Die Kriminalität sinkt in Deutschland, seit der Staat selbst nicht mehr kriminell ist. Die Anzahl der Kapitalverbrechen hat sich in den letzten Jahrzehnten zweimal halbiert. Es gibt einige furchtbare Mordtaten durch Flüchtlinge. Aber weit furchtbarer, weil nämlich nicht affektiv, hat der NSU gewütet, von dem deutschen Pfleger Niels Högel einmal ganz abgesehen. Ich weiß, dass das Ausnahmen sind. Aber der mordende Flüchtling ist auch die Ausnahme. Mord ist in Deutschland überhaupt - und zum Glück - und Gott sei Dank - die Ausnahme. Ich weiß nicht, warum man das immer und immer wieder sagen muss. Als ich einmal in ähnlichem Zusammenhang eine Zahl vom Bundeskriminalamt zitiert habe, wurde mir entgegnet, ob ich nicht wüsste, dass das BKA uns anlügt, ich sollte lieber - ganz im Ernst - einer nebulösen Hochrechnung folgen, wenn in den USA das und das passiert, dann wäre es doch wahrscheinlich, dass bei uns...Das war im Ernst.

Die zweite Kritik bezog sich auf die alte Menschheitsfrage, ob es qualitative Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschengruppen gibt. Der italienische Genetiker Cavallo-Sforza hat dafür eine schöne Formel gefunden: die Unterschiede innerhalb einer Gruppe sind immer größer als die zwischen den Gruppen. Dr. Yesus und Dr. Rousseau äußerten sich bekanntlich ähnlich, aber das hat weder die Christen noch die Atheisten gehindert, andre Menschen zu diskriminieren, zu verfolgen und auch zu ermorden. Leider sahen und sehen das nicht alle Menschen so. Immer wieder wird gerne das einfachste geglaubt. Da es kein reiches arabisches Land gibt (von einigen Ölscheichtümern abgesehen), muss der Islam schuld an der Armut sein, so lautet ihre These. Honduras ist streng und ausschließlich katholisch und hat ein Bruttonationaleinkommen pro Kopf, das ein Zwanzigstel von dem Deutschlands beträgt, und eine der höchsten Mordquoten (86:0,8 wieder im Vergleich zu Deutschland). Absurd. Der Reichtum Deutschlands wird von diesen Kritikern mit den Sekundärtugenden erklärt. Demnach hat Goethe den Faust und hat Benz das Automobil erfunden, weil sie pünktlich und gehorsam waren. Absurd. Die Sekundärtugenden sind eine Folge des Wohlstands und nicht deren Ursache. Warum sollte ich in einem Land, in dem es keine Arbeit gibt, pünktlich sein? Auch Deutschland war noch im neunzehnten Jahrhundert, wenn auch abnehmend, von Räuber- und Bettlerbanden bevölkert, deren Mitglieder alles andere als gehorsam waren. Erst als die Industrialisierung und vor allem deren zweite Phase, die Massenproduktion von Konsumgütern, sich langsam durchsetzten, sich also Arbeit lohnte (FORD/RATHENAU-FORMEL), lohnte es sich auch pünktlich zu sein. Pünktlich steht hier immer für alle Sekundärtugenden. Die Industrialisierung, zunächst gegen die Menschen gerichtet (Schlesische Weber), brachte schrittweise Wohlstand, Säkularisierung, Demokratie. Seit fast genau 100 Jahren haben wir den sozialdemokratischen Tag: ein Drittel Arbeit, ein Drittel Freizeit, ein Drittel Schlaf. Freiheit setzt immer auch diese Freizeit voraus. Flankiert wurde der sozialdemokratische Tag von der konservativen Sozialversicherung.

Religion, so steht es in meinem Blog, verliert sich, nachdem ein Land zum Wohlstand kam, das ist der Zusammenhang. Selbstverständlich gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen Religion und Armut oder Reichtum, denn, ich wiederhole mich, es gibt arme christliche und arme muslimische Länder. Wahrscheinlich wird die Wirkung von Religion überhaupt überschätzt. Warum sonst sind alle religiösen Schriften voll von Warnungen, was passiert, wenn man die Regeln nicht einhält? Auch der Staat wird maßlos überschätzt. Benz hat das Automobil ganz unabhängig vom Staat erfunden. Staat ist immer auch Polizeistaat. Deshalb muss das Ideal Freiheit bleiben und nicht hundertprozentige Sicherheit, die es bekanntlich auch nicht in fast perfekten Polizeistaaten gibt. Mir scheint der europäische Mittelweg - durch den Rechtsstaat abgebremste, sonst fast perfekt arbeitende Bürokratie bei liberaler Wirtschaft und Selbstverwirklichungsoption durch Bildung - gerade gut und verteidigenswürdig, allerdings muss er auch kritisiert und ausgebaut werden dürfen.

Die dritte Kritik kann am kürzesten behandelt werden, weil sie völlig absurd ist. Es wird von einigen Kritikern unterstellt, dass der Artikel antisemitisch sei, dabei handelt er gerade davon, dass ich gegen ANTI bin. Ich bin überzeugt, dass Antisemitismus die gleiche Richtung ist wie Antiislamismus oder Rassismus. Die Worte 'Verkafferung' und 'Verjudung' lehne ich genauso ab, wie alle Praktiken, die mit diesen Begriffen entstanden sind. In der Praxis funktioniert so etwas ohnehin nicht, das habe ich angedeutet. Mit dem Beginn des Sklavenhandels (1444) setzte auch ein intensiver Austausch ein. Je größer die angewendete, mörderische Gewalt gegen die als 'minderwertig' erklärten Menschen war, desto klarer wurde die tatsächliche Gleichheit der Menschen erkannt. Ein ganz frühes Beispiel für antirassistische Erkenntnis gibt es bei einem Dichter, der früher in den preußischen Lesebüchern stand, Emanuel Geibel, er war weder links noch Geistesgröße, im neunzehnten Jahrhundert aber sehr beliebt. Er schrieb eine Ballade über eine afrikanische Mutter, die ihr Kind liebt und verzweifelt, aber vergebens um dessen Leben kämpft und so genannte Christen, die sich weigern, Menschen zu werden, und die beide umbringen. [Emanuel Geibel, Das Negerweib, in: Juniuslieder, Tübingen 1848]

Meine Vermutung, wie es zu dem absurden Vorwurf kam, ist, dass ich ausdrücklich auch gegen Antiislamismus bin. Ich bin überhaupt gegen ANTI.

Ich bin gegen ANTI, weil alle Menschen gleich sind. Man kann nicht bei jeder Einwanderungswelle wieder anfangen, qualitative Unterschiede zu konstruieren, die es eben nicht gibt. Das steht so in allen Schriften der Propheten und Philosophen. Eine interessante Theorie hat Jared Diamond in seinem Buch ARM UND REICH entwickelt, warum es Unterschiede der Lebensweisen und Lebensqualitäten gibt. Besser als alle Theorie ist immer das Leben: gehen wir in die Synagogen, in die Kirchen, in die Moscheen, seien wir freundlich zu den Zeugen Jehovas wie zu jedermann, reden wir mit jedem, helfen wir, wo wir können, setzen wir uns einfach in ein Flüchtlingsheim zum reden, man wird dort auch als Agnostiker oder Atheist mit offenen Armen empfangen! Hören wir auf, uns gegenseitig zu denunzieren! Noch in jedem Dorf, in dem ich war, in allen europäischen Ländern, wurden meine Strümpfe getrocknet und Tee für mich gekocht!

Die Botschaft aus Frankfurt an der Oder (an der Oder!), dort als Graffito am Hauptbahnhöfchen: WAS IST BESSER, GUT SEIN ODER GUT HANDELN?

[Heinrich von Kleist, Denkübungen, Frankfurt an der Oder, 1800]

analogicus/pixabay

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