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Welches Leben ist schon richtig und: was soll das überhaupt heißen: richtiges Leben. Ich finde, dass Adornos berühmter Satz (es gibt kein richtiges Leben im falschen) schon damals überholte Begrifflichkeiten aufwärmte, nämlich richtig und falsch. [Damit mache ich mir jetzt keine Freunde, denn manche tragen alte Sätze vor sich her, als hätte ihre Mutter sie ihnen mit auf den Lebensweg gegeben]. Demzufolge kann man jedes Leben als falsch bezeichnen, weil es nämlich dann und insofern kein richtiges Leben mehr gibt, wie wir aus ehemals festgefügten Gemeinschaften aussteigen (wollen) und uns vereinzeln, aber gleichzeitig in immer größeren Massen untertauchen. Die Menschen mögen früher ihr Leben als richtig empfunden haben, indem sie lebenslang zu genau der Gruppe gehörten, zu der sie auch gehören wollten, weil sie gar keine andere Gruppe kannten und sich vorstellen konnten. Auch heute noch gibt es Gruppen, aber sie sind flexibel wie ihre Mitglieder, man kann ein- und austreten.
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Mein Ich entstand, als ich merkte, dass weder meine Begabung noch mein Ehrgeiz für das ausreichten, was ich für meine Träume hielt. (Denn das ist nochmals eine Frage: können wir auf das gekommen sein, was wir träumen, oder ist es nicht vielmehr der Zeitgeist, der es uns eingeflüstert hat, oder die Geldgier oder die Faulheit). Da hatte ich plötzlich den Mut zu vier wunderbaren Kindern, zu einem sehr wichtigen, erfüllenden, aber eher verachteten Beruf und zu einem Haus, das die Nachbarn ringsumher Ruine nannten, wir aber als historisch erkannten. Die Gegend, in der wir leben, nachdem wir unser historisches Haus restauriert und ausgebaut haben, ist von der Eiszeit hinterlassen. So kommt uns auch der Winter vor: es ist ihm nicht bloß mit Heizungen beizukommen, man muss auch genügend Widerstandkraft haben. Das Haus ist ein Dialog mit der Natur. Es ist in ein Moor hineingeschoben wie ein Schiff, das nicht untergehen kann. Sein Fundament ruht auf gewaltigen Steinen, die das Eis herschleppte. Sein Dach wiegt sechzig Tonnen, kein Wind kann es tragen. Das Haus gehört zu meinem Ich, ich gehöre aber auch zu ihm.
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Ich selber war es, der den Beruf lange Zeit verachtete, obwohl ich auch nicht nur schlechte Lehrer hatte, eher Lehrer ohne jede Idee: sie ließen uns Vokabeln lernen und binomische Formeln. Mein erstes fremdländisches Wort (und auch die nächsten tausend) lernte ich aber, indem ich mit den Kindern der russischen Besatzungsoffiziere spielte und von deren Eltern in ihre mehr als dürftigen Wohnungen eingeladen wurde. Geblieben ist der Sinn für Sprache. Es kommt, weiß ich heute, nicht darauf an, Vokabeln und Formeln zu verbreiten, sondern den Mut zu sich selbst auszustreuen. Man darf nicht die Sprache der Bürokratie übernehmen, sondern muss die Menschen zu ihrer eigenen Sprache führen. Das gelingt aber nur bruchstückhaft und bei wenigen. Das ist ein Haus, das niemals fertig wird.
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Unsere vier Söhne haben sich jeder ein Zimmer gesucht. Obwohl es Durchgangszimmer sind, haben sie alle auch etwas eigenes, abgeschlossenes, noch hängt der Schlüssel neben der Tür. Sie haben ihre Eltern befragt, die Natur, das Haus, den Bildungsberg, und überall holten sie sich Bruchstücke, die sie zu ihrem eigenen fügten. Sie sind sich so ähnlich, dass eine neidische Nachbarin sie als geklont erkannte, aber sie sind auch so verschieden, dass sie schon eigene Welten sind, aber Welten oder Häuser mit offenen Fenstern. Ich wusste früher nicht, wie viel man von Kindern lernt und wie sehr man ihnen dankbar sein muss. Die Kinder sind das eigentliche Geschenk des Lebens, so wie das Leben das eigentliche Geschenk ist. Obwohl man das im Laufe des Lebens erfährt, ist es schwer, aus der Konsumwelt, auszusteigen, zu erkennen, dass Haben keine Größe ist, und auch nicht Sein, sondern nur Werden und Geben. Und so ist es auch nicht entscheidend, was man weiß, denn das veraltet sehr, sehr schnell, sondern was man glaubt. und auch das Glauben, glaube ich heute, ist keine Bahn mit Wegweisern, sondern ein Suchen und Lieben und Weben und Streben. Gott, wenn es ihn gibt, ist keine Burg, sondern das Denken und Danken in uns. [Der Ring ging nicht verloren, alle haben ihn oder keiner.]
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Heute kommt es mir so vor, als ob das wichtige im Leben seine Quersumme ist. Wenn man sie grafisch darstellt, kommt etwas heraus, das so ähnlich ist wie ein Sinus. Auch Musik ist so darstellbar, aber wir hören sie lieber. Das Leben sollte man auch lieber leben, als es grafisch darzustellen. Das erstaunliche an meinem Leben ist die Kontinuität von Gedanken und Gefühlen, wie zum Beispiel, dass das Kreuz eigentlich ein Sinus ist, oder aber das Gedicht als Lebensform. Das Gedicht erkennt mehr als eine Formel, weil es offen ist. Es gehört Mut dazu, mit solch offenen Erkenntnissen zu leben. Deshalb suchen so viele das endgültige Zelt. Aber das kann es nicht geben. Nichts ist gültig. Und es gibt kein Ende. Das nie zu erreichende Gleichgewicht in meinem Leben ist die Liebe auf der einen Seite, als Ideal, als Lebensform, als Zuwendung, als Offenheit, aber auf der anderen Seite meine bunkerhafte Verschlossenheit. Deshalb war auch das Internet, dieses große Bilderbuch der Welt, das uns das Denken nicht erspart, eine gute Erfindung: es ist die Funkverbindung aus meiner Höhle. Und wieder verbindet sich das mit meiner Kindheit: da habe ich sehr gerne Höhlen gebaut, eine hatte sogar ein Röhrentelefon.
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Die meiste Zeit tut man nichts. Man beschäftigt sich mit sich selbst, zum Beispiel arbeitet man, um leben zu können, oder man schläft, fährt in Urlaub, liebt jemanden, kratzt das Eis von den Autoscheiben. Das ist alles nichts. Vielleicht hat man ein Jahr lang, dreihundertfünfundsechzig Tage, achttausendsiebenhundertsechzig Stunden, etwas getan, das bleibt. Die wichtigste Frage des Lebens ist Angst, die richtigste Antwort ist Liebe. Es gibt keinen Weg und keine Antwort, und trotzdem muss man wissen und gehen, küssen und geben.