Das Gestern wird schon deshalb keine Wirklichkeit sein, weil es nur als Narrativ existieren kann. Die Menschen erzählen sich nicht, was gestern war, sondern was gestern hätte sein können, vielleicht gewesen war, hätte sein sollen. Der Erzähler dramatisiert seinen Beitrag entweder in Richtung des handelnden Täters oder des leidenden Opfers. Niemand gibt gerne zu, dass er zwar als Täter erscheint, aber nicht wirklich etwas getan hat (Kohl-Syndrom). Auch als Opfer kann man seinen Statut durchaus erhöhen, wenn man zu einer demonstrativ leidenden Gruppe zu gehören scheint oder gehören will oder auch tatsächlich gehört. In einem Krieg sind aber tatsächlich alle Seiten Opfer. Selbst über gravierende Fehler spricht es sich leichter, wenn man zum Schluss obsiegt hat oder so tun kann, als hätte man genau das gemeint, was schief gelaufen war (Schabowski-Tag). Die Politik bietet sich als Beobachtungsfeld für diese allgemein menschlichen Schwächen an, seit wir die Politik Tag und Nacht rund um die Uhr beobachten können. Politiker bieten sich als Projektionsfläche unserer Kritikfreudigkeit an, weil sie etwas tun oder nicht tun, was viele Menschen betrifft, weil der Bildungsgrad und die Freizeit zugenommen haben, weil Politiker sich meist nicht auf ein so hohes oder sogar hehres Ideal stützen können, wie beispielsweise Kirchenmänner oder Fußballprofis. Selbst solche offensichtlich bösen und unsolidarischen Kirchenmänner wie Meisner (und sein Schützling Tebartz mit dem goldenen Klo), Mixa und Müller konnten jahrzehntelang ihr Unwesen treiben, weil sie durch ihre Berufung auf Yesus, den selbst Atheisten achten, geschützt waren. Welcher Politiker sieht sich so von seinem Ideal, wenn er überhaupt eins hat, umfangen? Es ist keine Beschimpfung, wenn man sagt, dass es Politiker mit und solche ohne Ideal gibt. Kohl war ein Konservativer, aber er hat ohne Gewissenskonflikte die Brandtsche Ostpolitik bis zu Vereinigung Europas fortgeführt. Adenauer hätte, von seinem Geburtsjahr her, noch Nationalist sein können, war aber ein nach Westen offener Konservativer, der aber als erster westlicher Staatsmann in die Sowjetunion reiste. Angela Merkel ist so erfolgreich, dass ihre Wiederwahl immer wahrscheinlicher wird, aber hat sie eine Vision oder ist sie, wie ihr Lehrmeister und Ziehvater, eine Pragmatikerin? Zudem hat sie das Glück, dass es eine Reihe wirklich engstirniger und unfähiger Politiker gibt, die als projizierter, manche glauben auch projektierter Schrecken auf die Welt wirken. Da reicht es schon, einfach nur pragmatisch gut zu sein. Die Strahlkraft eines Trudeau oder eines Macron geht ihr ab.

Die älteste Partei in Deutschland, die Sozialdemokratie, hat ein ebenso altes und auch ziemliches hohes Ideal. Aber taugt es noch für eine zerrissene Welt, in der, obwohl Maschinen für uns arbeiten, immer noch ein Siebtel der Menschen hungert und im Elend lebt? Wenn es stimmt, was Justin Trudeau sagt, dass die Rechte Angst und die Linke Wut verbreitet, und wenn es stimmt, dass die Welt sich heute mehr in geschlossene und offene Gesellschaften teilt und es gar nicht mehr um links und rechts geht, dann ist auch der Gedanke der Parteien überlebt. Dann ist die AKP als Schutz- und Trutzgemeinschaft eines Autokraten genauso richtig wie Emanuelle Macrons En Marche-Bewegung eines Demokraten. Solche Auffangbecken des Protests sind aber auch die AfD und die Trump-Wählerschaft. Die Wirklichkeit kann sich nicht am Gestern orientieren, das wäre in einem doppelten Sinne die falsche Richtung. Von Ingeborg Bachmann stammt der schön-traurige Gedanke, dass die Geschichte zwar lehrt, aber keine Schüler finden kann. Der Mensch, der sich im Alltag gern mit hohen Geschwindigkeiten bewegt, seit Tamerlans Zeiten vom Gestern fortzujagen glaubt, sehnt sich am Sonntag gerne ins Vorgestern zurück. An dieser Haltung zur Bewegung kann man das dilemmatische und ambivalente Wesen von uns Menschen sehen. Wer nur das Gestern und nicht das Ideal erhalten will, muss für das Heute Wut und für das Morgen Angst verbreiten. Dass es trotzdem große Konservative gab, liegt daran, dass bei ihnen zwar Ideal mit dem Gestern zusammenfiel, sie aber wenigstens einmal in ihrem Leben den Schalter in Richtung der Zukunft umgelegt haben (Bismarck, Churchill, Adenauer).

Bleibt das Ideal. Das vor über zweihundert Jahren formulierte Programm der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit würden wir heute eher mit dem archaischen Begriff der Gerechtigkeit wiedergeben, der als religiöses Heilsversprechen noch mehr ins Gestern weist. Aber diese Sicht übersieht den technischen Fortschritt, der den Kampf ums Überleben immerhin stark erleichterte. Nur wird gerne technischer Fortschritt mit Menschlichkeit oder Gerechtigkeit verwechselt. Mit dem Fahrrad verbindet sich kein Heilsversprechen. Sein Anteil am Menschheitsfortschritt würde sich, unter Abzug der Umweltfolgen der Mobilität, nur sehr mühevoll berechnen lassen, obwohl er offensichtlich ist. Schon allein, dass bis zum zwanzigsten Jahrhundert jede technische Neuerung zunächst elitär war, heute aber universell ist, zeigt den Riesensprung, den die Menschheit gemacht hat. Zeitgleich änderte sich auch, ebenfalls durch die verbesserten Lebensumstände, die Gesamtzahl der Menschen so dramatisch, dass auch dies eher Ängste als Freude auslöste.

Jedem Sozialdarwinismus muss, mit welchem Ideal auch immer, die Stirn geboten werden. Seit es Menschen gibt, sind sie solidarisch. Wettbewerb ist immer nur die Ergänzung der Solidarität. Die Ausnahme hierbei ist der Krieg, aber seit dem zwanzigsten Jahrhundert wissen wir, dass der Krieg keine positiven Aspekte hat. Nichts am Krieg ist gut, es gibt keinen Sieger. Jeder vermeintliche Sieg ist pyrrhisch. Auch der sagenhafte Krieg um Theben endete mit dem folgenschweren Tod sowohl des Angreifers als auch des Verteidigers. Es bleibt eine seltsame Frage, warum die Menschheit, obwohl sie seit den Tagen von Polyneikes und Etokles oder Pyrrhos oder Hanibal weiß, dass Kriege nie mit Siegen enden, den Gedanken so spät, jetzt erst, gegen den Gedanken des freien Handels vertauscht hat. Und auch jetzt tun sich Abgründe von Widersprüchen auf. Gerade auf dem möglichen Höhepunkt der neuen Erkenntnisse, fallen ganze Völker, vielleicht aus dem Mangel an Erfolg, in die Zeit düsterer Autokratie zurück. Allerdings können wir ganz sicher sein: das Licht bleibt das Ideal und nicht die Finsternis. Ob wir an Erleuchtung glauben oder auf Aufklärung schwören, nur das Licht kann die Richtung vorgeben. Wenn man aus dem erdnahen Raum auf die Erde blickt, sieht man nicht nur die Ungerechtigkeit, nicht nur die Energieverschwendung der reichen Länder, sondern auch die Vision des Echnaton: die Sonne als Ideal und Wirklichkeit.

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