Jobsposten ist schwedisch und heißt Hiobsbotschaft, eine extrem schlechte, schicksalhafte Nachricht. Bei inflationärem Gebrauch meint man überhaupt das Böse im Leben, vom verpassten Bus bis zum verprassten Sparbuch. Man muss das nicht nachlesen: Hiob ist einer der Propheten des Alten Testaments. Er ist ein äußerst erfolgreicher und vermögender Mann. Die Geschichte betont, dass er auch seine vielen Kinder als Reichtum ansieht. Sein Pech ist, dass Gott und der Teufel über ihn eine Wette beschließen. Der Teufel darf alles tun, was Hiob vom Glauben abbringen könnte. Und so häufen sich die Unglücksfälle, alles Hab und Gut wird verbrannt oder im Wunde verweht, und das dreimal. Hiob verflucht Gott, aber glaubt weiter an ihn. In der Weltliteraturgeschichte taucht dieselbe Wette noch einmal auf: Goethe lässt Faust genauso scheitern. Schon bei Hiob gibt es keine erkennbare Schuld, denn er weiß nichts von der Verschwörung hinter seinem Rücken. Für uns, die Leser, ist aber klar, dass es menschengestaltliche Verursacher gibt: den Teufel oder Gott oder beide. Hiob mag vielleicht dreitausend Jahre alt sein, gleichalt mit Ödipus. In der griechischen Tragödie gab es eine kleine Schuld und dann Strafen, die in keinem Verhältnis zu der Verfehlung standen. Der Vater von Ödipus, Laios, war ein sexuell übergriffiger Typ, dafür musste sein Sohn, dessen Unheil vorausgesagt war und das durch die Durchstechung seiner Füße und seine Aussetzung verhindert werden sollte, seine Mutter Iokaste, die Frau von Laios, heiraten, nachdem er seinen Vater getötet hat, Iokaste nimmt sich das Leben, die vier inzestuösen Kinder sterben alle eines unnatürlichen Todes, Ödipus blendet sich und geht ins Exil, wo er stirbt.
Seit der Antike glauben wir zu wissen: Schuld sind immer die anderen. Schuld hat immer Menschengestalt. Die Folge von Schuld scheint immer unverhältnismäßig. Wir flüchten immer ins Gegenständliche, weil wir nicht wissen wollen oder können, dass die Abstraktionen, die Begriffe, ebenfalls menschengemacht sind, aber natürlich nicht vom einzelnen Menschen.
Dabei könnten wir wissen, dass es keinen Fakt gibt, falls es überhaupt Fakten gibt, der weniger als 1000 Ursachen hätte. Es gibt keine Ursache, keinen Ausgangspunkt, der nicht 100 Kollaterale bilden würde, so wie man sich den Blutkreislauf oder einen zweigreichen Baum vorzustellen hat. Wir sind so sehr auf unser falsches monokausales anthropomorphes Weltbild abonniert, dass es sogar Menschen, die Ursache und Dörfer gibt, die Urwegen heißen. Urwegen liegt in Transsylvanien und heißt, weil es kaum noch Deutsche dort gibt, jetzt Gârbova. Und Adrian Ursache heißt der Reichsbürger, der versucht haben soll, einen auf ihn schießenden Polizisten zu erschießen. Aber das lässt sich im Prozess nur schwer nachweisen. Was mag sein Urahn begonnen haben? Aber auch das Unheil ist unendlich.
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Der klassische Denkfehler der Umkehrung von Ursache und Folge sowie die Personalisierung der Schuld konnten wir in den letzten Jahren bei der Flüchtlingskrise beobachten. Ohne sich klar zu machen, wann die die hier im Sommer 2015 Eingetroffenen losgewandert sind, taten die Kritiker der Einwanderung so, als ob Merkels bemerkenswerter Satz 'Wir schaffen das' eine Einladung an die verbliebenen Menschen weltweit gewesen wäre. Wenn wir uns erinnern, war das auch gerade die Zeit, als Pegida und AfD ihren Kampf gegen die vermeintliche Islamisierung aufgenommen hatten. Der bis dahin diffuse Widerstand gegen eine allzu glatte und erfolgreiche Regierung, die aber manches persönliche Problem nicht lösen kann, fand seine Themen. Die vermuteten Personen hinter der Islamisierung sind merkwürdigerweise die Amerikaner, die gerade mit Krisen über Krisen beschäftigt sind, und natürlich, besonders in Osteuropa, die Juden. Diese beiden Gruppen hätten ein Interesse an der Destabilisierung Europas und würden das vor allem mit einem Bevölkerungsaustausch verwirklichen wollen. Globalisierung, ein zu abstrakter Prozess, als dass man ihn fassen und verstehen könnte, wird einfach auf beiden Seiten personalisiert. Der Urheber ist der Jude und der Leidtragende ist der blonde Deutsche. Begleitet wurden diese Parolen, denn eine Diskussion, ein Austausch, war es nie, von der ständigen Betonung der Dummheit der Deutschen und der Politiker. Es wurden sogar Länder wie Saudi-Arabien als Vorbild für hartes Durchgreifen und rigide Einwanderungspolitik benannt. Im Iran, einem anderen durchsetzungsfreudigen Land, würde Adrian Ursache nicht im weißen Hemd mit zwei Verteidigern diskutieren können, ob er geschossen hat, ob er schießen wollte oder ob er schießen konnte, er würde an einem Baukran hoch über der Stadt als Exempel hängen. Das ist es, was wir nicht wollen und was Säkularisierung nicht will.
Die Säkularisierung, also die Verweltlichung, die Abkehr von den starren Formen ritualisierten religiösen Denkens, braucht auch einen vorstellbaren Schuldigen. Bei Luther war das noch der Teufel, dann im neunzehnten Jahrhundert der Pfarrerssohn Nietzsche, und hier, wo ich wohne, ist es die DDR. Obwohl Wichern 1848, zeitgleich mit Marx, sein Manifest gegen den Glaubensabfall veröffentlich hat, obwohl der rechtskonservative Generalsuperintendent Büchsel in derselben Zeit durch Hausbesuche seine Kirchenbesucher zusammensammelte, obwohl also die Säkularisierung seit fast zweihundert Jahren die Kirche zur Erneuerung geradezu einlädt, wird hier alleine die schwache, zum Schluss wie ein morsches Kartenhaus zusammengebrochene Diktatur als Schuldiger gesehen. Es waren Personen, die den tatsächlich erwünschten Atheismus vertraten. Es ist wahr, dass die Versöhnungskirche in der Bernauer Straße durch die DDR-Diktatur gesprengt wurde, weil sie im Grenzbereich stand. Aber keine fünf Kilometer entfernt davon wurde die Jerusalemkirche ebenfalls gesprengt, weil sie dem Springerhochhaus, das ganz gewiss eine wichtige politische Funktion hatte, im Weg stand. Zwar war sie eine Kriegsruine, aber sie machte einem Symbol der Säkularisierung Platz: ein freies, wenn auch nicht von jedem gemochtes Medium gegen den geweihten Boden. Man kann Boden und Waffen und Personen nicht heiligen, sooft das auch versucht wurde. Dieses Beispiel dient nicht der nachträglichen Entschuldigung der DDR, sondern der Entpersönlichung der Schuld. Säkularisierung gibt es schon lange und überall. Sie ist auch ein Grund, warum wir keine Islamisierung fürchten müssen. Zwar kann niemand die Zukunft voraussagen, aber es spricht sehr wenig für eine plötzliche Aussetzung der Säkularisierung. Vielmehr scheinen sich ihre Gegner in fundamentalistischen Gruppen zusammenzufinden, die die bürgerliche Ordnung erheblich stören, aber wahrscheinlich nicht beseitigen können.
Nachbemerkung: Berlin verdankt übrigens eine Reihe schöner und bemerkenswerter Kirchen dem Terrorismus. Kaiser Wilhelm I. ließ jedesmal wenn er lebend einem Attentat entkam, eine Kirche bauen. So auch die Zionskirche von August Orth, der ein großer Akustiker und, als er zeitlang keine Aufträge hatte, der Erfinder der Berliner Ringbahn war. Auch die Säkularisierung schenkte Berlin Kirchen. Die letzte Kaiserin Auguste Victoria ließ gegen den, wie sie meinte, um sich greifenden Atheismus, Kirchen bauen, darunter die Bethanienkirche in Berlin-Weißensee, die baugleich auch in Danzig-Zoppot als Erlöserkirche steht.