Anzeigen und Wasserwerfer sind keine erlaubten Bestandteile des Diskurses. Hätten meine beiden Mitreisenden im ICE darauf insistiert, hätte man sie als zeitgemäße Gesprächspartner akzeptieren können. So aber mussten wir schweigen zu einer unsäglichen Tirade, die genau dreißig Jahre zu spät kam.
Vor neunundzwanzig Jahren drehte sich im Osten des sich soeben wiedervereinigenden Landes die Stimmung radikal und total. Aus der Euphorie der D-Mark und der über Nacht gefüllten Ostkaufhalle, die wenige Tage vor dem 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion, all das für Pfennige verhökerte, was schon die letzten Jahre niemand gekauft hatte. Das war eigentlich für niemanden ein Schaden, hätte aber als das Menetekel wahrgenommen werden können, als dass es sich kurze Zeit später herausstellte. Denn wenige Wochen und Monate nach diesen denkwürdigen Ausverkaufstagen wurden all die Menschen arbeitslos, die diesen wertlosen Plunder einst hergestellt hatten. Statt aber das Menetekel zu erkennen, übersahen sie die Ironie der Geschichte. Sie lachten herzlich über den Pfennigplunder, der meist auf Tischen auf der Straße feilgeboten wurde und die Regale leerräumen sollte, die tatsächlich – beinahe niemand hatte es so richtig glauben können – über Nacht mit all den schönen und schnuckligen Sehnsuchtsprodukten wieder aufgefüllt wurden, von denen man wiederum nie geglaubt hätte, dass sie je Dörfer und Städte im noch Bezirk Neubrandenburg genannten Teil Mecklenburgs und im noch Bezirk Karl-Marx-Stadt genannten Teil Sachsens erreichen könnten. Aber das Wunder war geschehen und sein Demiurg hieß Kohl, dessen Zenit aber genauso schnell sank, wie er gestiegen war. Denn wer mit dem ersten Lohnzettel, auf dem D-Mark stand, gleichzeitig seine Kündigung erhielt, der wollte an Wunder nicht mehr glauben.
Es ist im Jahr 1990 von kaum einem Ostbürger realisiert worden, dass er unverkäuflichen Plunder in schrottreifen Fabriken hergestellt hat, während er selbst von hochwertigen Farbfernsehern, Automatikwaschmaschinen (die im Westen schon nicht mehr so hießen, im Osten aber noch weitgehend unbekannt oder unerschwinglich waren), exotischen Geschirrspülern, Video-Recordern und vor allem Autos träumte. Der Tankstellenpächter der kleinen Stadt, in der wir seit fast dreißig Jahren wohnen, hatte sich zum Beispiel ein überteuertes Faxgerät aufschwatzen lassen, das er nie brauchte und dessen Kopierfunktion er nicht verstand. Er wollte nichts und hatte auch nichts zu kopieren. Nachdem wir einige Male bei ihm getankt hatten, fragte er uns, ob wir ein Karussell oder einen Zirkus betrieben, so exotisch kamen wir ihm vor, und wir waren aus Ost-, nicht aus Westberlin, hatten aber einen gelb angemalten T2-Bulli.
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
In den nächsten Wochen und Monaten kreuzten sich zwei fatale Falschansichten: zum einen glaubten viele Menschen im Osten, dass alles, was geschieht, durch den Staat getan wird. Der DDR-Staat war eine einzige Hybris. Man sollte ihm, wenn man zum Beispiel Medizin studierte, dankbar sein, dass man Medizin studieren durfte, nachdem man drei Jahre seines Lebens in der NVA* vergeudet hatte. Auf die Idee, dass er vielleicht Ärzte brauchen könnte, um seiner Fürsorgpflicht nachzukommen, kam der Staat anscheinend nicht. Der Staat ist auch keine Person, kein menschengestaltliches Wesen. Der Staat ist einfach die Verwaltung, böse gesagt die Bürokratie, die, wir wissen es von und seit Max Weber, die Tendenz zum kanzerogenen Wachstum hat, die mit Dauerhybris geboren wird und die schließlich von sich glaubt, selbst die Bewegung des Augenlids bedürfe eines siebenseitigen Antragsformulars. Diese im Osten gewollte Ansicht des Staates wurde nun auf den Westen übertragen, ohne zu bemerken, dass es im wesentlichen wirtschaftliche Prozesse waren, die nicht nur vor den Augen der entsetzten Ostbürger abliefen, sondern, die ihnen unter den Händen wegliefen, so wie sie selbst noch aus dem Territorium, in das sie achtundzwanzig Jahre hineingezwängt waren. Die Wirtschaft, und das war die zweite Falschperspektive, wurde nicht als eigenständige Kraft wahrgenommen. Wer also seinen Arbeitsplatz verlor, glaubte in seiner Selbstwahrnehmung, dass er ihm genommen worden war von einem Staat, den er zwar herbeigesehnt, aber dessen derart böse Schatten er nie und nimmer hatte erahnen können. Wer sich als passiv wiederfindet, muss über jede Aktion entsetzt sein.
Es ist dies das Paradox der frühen neunziger Jahre, dass die Menschen eine Befreiung aus der Mangelwirtschaft und dem Stacheldrahtkäfig wollten, nicht aber aus dem scheinbar perfekten monetären Sozialstaat, dessen Anteil an der Pleite sie nicht verstehen wollten, und aus dem ebenso scheinbar omnipotenten mentalen Fürsorgsystem, das von der sprichwörtlichen Sitzordnung auf den Krippentöpfchen bis zur sozialistisch geweihten Einäscherung reichte.
Der Ostbürger war genauso gespalten wie das Land, dessen Drittel er nicht sein eigen nennen konnte, sondern mit der Sowjetunion aus Dankbarkeit teilen musste. So hatte zum Beispiel die Stadt Eberswalde 50.000 Einwohner, aber hinter den Kasernenmauern wohnten versteckt und verborgen noch einmal 50.000 Menschen, die miternährt und mitbeheizt werden mussten, die Mitglieder der ruhmreichen 10. Gardepanzerdivision. Man ahnte sie nur, wenn 1000 halbnackte blutjunge Soldaten 55 Güterwagen Braunkohle mit Forken entluden.
Aber auch der Westbürger hatte sein Paradox der neunziger Jahre. Er lächelte freundlich, außer wenn er ein Spekulant war, freute sich über die selfulfilling prophecy der Wiedervereinigung und wunderte sich über die mangelnde, ja sogar abnehmende Dankbarkeit der Schwestern und Brüder im Osten, aber das sagte schon keiner mehr. Auch hier machte sich Entsetzen breit über die falschen Cousinen und Cousins, die Flüchtlingsheime in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda anzündeten und sternhagelvoll und mit bepissten Hosen, was das Westfernsehen genüsslich vorführte, Siegheil riefen, und die schließlich den falschen Heiland Kohl mit faulen Eiern bewarfen.
Kurz gesagt hatten beide Seiten ein widerspruchsfreies System erwartet, stattdessen hagelte es aber Widersprüche, Paradoxa und Dilemmata.
Es geht nicht um Politik oder Wirtschaft. Es geht um Beleidigtsein. Es nicht schlimm,wenn jemand komplexe Prozesse nicht versteht. In der Diktatur muss er darüber – zumindest öffentlich – schweigen, in der Demokratie dagegen ist er aufgefordert zu reden, und er redet. So waren meine beiden Mitreisenden im ICE nach Hamburg im Begriff, dort ein großes Kreuzfahrtschiff zu besteigen und womöglich auf große Fahrt zu gehen. Diese Fahrt hätten sie in den Zeiten, von denen sie nun träumten, weder finanziell noch tatsächlich machen können: um ihr Ländchen war ein Zaun mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen, Hunden und scharfen Posten aufgebaut. Das hatten sie vergessen.
5000 € sind ungefähr 10.000 DM, das sind etwa 70.000 Ostmark gewesen, allerdings nach illegalem Umtauschkurs, jedoch gab es keinen legalen Umtausch in dieser Höhe. Wer beim Tausch solcher Summen erwischt worden wäre, wäre unweigerlich für mindestens fünf Jahre nach Bautzen und nicht in die Karibik gefahren. Sie verballerten umgerechnet 70.000 Ostmark, aber debattierten über den scheinheiligen Staat, der das Bier, das einst fünfzig Ostpfennige kostete, dann zwei D-Mark, nun fünf € kosten lassen würde, weil seine Gier nach Steuern (keine Rede von HartzIV**, Wohngeld, Straßen, Schulen!) einfach absurd wäre: die Merkel ist schuld. Das ist das Paradox der Neuzeit, wenn es nicht sogar eine Katastrophe ist.
* Nationale Volksarmee
**HartzIV wird in dem Sinne auch nicht als Geldtransfer wahrgenommen, sondern als Strafe