WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?* Beethoven an Struve, 1795
Jede Krise spült unweigerlich ganze Kompanien von Besserwissern, Panikmachern und Ordnungsfanatikern hervor. Das mag in der Flüchtlingskrise wenigstens noch einen rationalen Kern gehabt haben: das alte Muster, die Grenzen zu schließen, hält die ankommenden Menschen zunächst auf, man sieht es jetzt auf den griechischen Inseln. Die alte Stadtmauermentalität verbreitet gleichzeitig Idylle und Fäulnis. Mauerbau geht aber nur in Ländern, in denen nicht in der Verfassung steht, dass die Würde des Menschen weder käuflich noch verletztlich sein darf.
Auch die Gegenseite betonte damals, dass es Flüchtlinge immer schon gegeben hätte, forderte also selbst auch zum Blick in die Vergangenheit auf, allerdings mit dem Ziel der Toleranz. Das größte und zugleich vernünftig-segensreichste Flüchtlingsgesetz war denn auch das preußische Toleranzedikt von 1685. Aufklärung und Jurisdiktion gehen also schon zusammen, wenn weiser Verstand sie leitet.
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Was ist aber von einer aufgeregten, leider nur schwatzenden Minderheit zu halten, die die Regierungen auffordert, die Vorsichtsmaßregeln rückwirkend zu lockern, weil sie falsch gewesen sein könnten? Es muss und darf alles hinterfragt und kritisiert werden. Aber die meisten Menschen, in den USA sogar 30 Millionen arbeitslos Gewordene, waren mit existenziellen Fragen beschäftigt. Interessiert eine alte Dame, die im Pflegeheim keinen Besuch empfangen darf, wirklich, was ein pensionierter Kreisarzt zu Varianten des Schutzes vor Viren sagt?
Noch nie haben die Besserwisser so krass an den Interessen des von ihnen immer wieder heraufbeschworenen Volkes vorbeigeredet. Es ist erstaunlich, wie diszipliniert und vertrauensvoll wir, die sonst so gerne jammernden und auf die Regierung schimpfenden Deutschen eben dieser Regierung folgen. Merkel scheint für die Krise gemacht zu sein. Selbst der sonst katastrophale Verkehrsminister hat nur einen Schaden von 100 Millionen ausgefallenen Schutzmasken zu verzeichnen.
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In einer neuen Krise kann man schlecht auf Ordnungen zurückgreifen, die diese Krise nicht kannten. Lernen ist immer besser als regeln. Es ist ein großes Glück, dass der Hauptfaktor der Pandemie bei uns nicht der Tod ist, sondern das Leid, das es zu verhindern gilt. Der von den Panikmachern und Verwörungsexperten befürchtete Kontrollverlust ist wieder einmal nicht eingetreten und das Volk ist nicht aus dem Staat ausgetreten, wie – wir erinnern uns – der rechte Theoretiker Renaud Camus in seinem Renaissanceschloss voraussagte. Die Balance zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen freiwilligem Lernen und einer gefängnisartigen Ordnung, ist immer eine imbalance. Auf des Glückes großer Waage steht die Zunge selten ein…wusste unser Großdichter dazu. Dass aber wir Menschen immer auf die Waage setzen, auf die Balance hoffen, die alten Zustände, die wir zu kennen glauben zurücksehnen, das ist verständlich, aber dadurch wird es weder richtig nich gut. Richtig kann es nicht werden, weil es richtig nicht gibt. Und gut würde es nicht, weil auch ein Gefämgnis keinem Erdbeben standhält. Schon Pasteur, der uns immer einfällt, wenn wir Milch kaufen, wusste, dass zum Schluss ohnehin die Mikroben siegen werden.
Die Vergangenheit kennen wir aus demselben Grund nicht, aus dem wir auch die Zukunft nicht kennen können: wir sind nicht dabeigewesen. Aber selbst wenn wir dabeigewesen sind, natürlich nur in der Vergangenheit, dann trifft auf uns mehr der Trugschluss zu, dass wir gesehen haben, was wir sehen wollten, nicht, was tatsächlich da war. Denn niemand von uns hat enzyklopädische Augen und ist von Erinnerungen frei: und immer sieht der Traum noch mehr als das Gedächtnis.
In diesen Tagen spülte Facebook die Werbung für einen alten Text von mir nach oben, in dem ein kleiner Mann des Volkes, ein blonder Maurerlehrling mit immer roten Ohren, einen wahrlich großen Irrtum eines Kontrollfanatikers aufdeckt. Wir drucken den Text hier noch einmal ab:
[ZAHLENDREHER, Nr. 188]
Man sieht sich lieber als Märtyrer der Zeit oder, wie es moderner heißt, der Sachzwänge. denn als erfolglosen Neuerer. Zu allen Zeiten war es schwer, eine eigene Idee zu entwickeln und sie durchzusetzen. Dagegen hilft eigentlich nur zweierlei: einfach mit der Masse mitlaufen oder sich als Opfer stilisieren. Plagiate wollen wir nicht als ernsthafte Möglichkeit anerkennen.
Die Masse und ihre Führer stellen sich natürlich und als gesunden Menschenverstand dar, der dann auch im Englischen common sense heißt.
Es ist nicht nötig aufzuzählen, was der gesunde Menschenverstand schon alles als normal angesehen hat und ansieht. Unter Führung ihrer Priester zogen Millionen Menschen zu den Volksbelustigungen der Exekutionen. Ein besonders krasser Fall mag der siebzehn Jahre junge Jesse Washington gewesen sein, dessen Erhängung und Verbrennung ein tausendköpfiger Mob johlend zusah, der anschließend Postkarten mit dem Grauen verkaufte, aber es war leider in allen Kulturen und Religionen üblich. Das wird deutlich und deutlicher, wenn man mit jungen Flüchtlingen am Richtstein und am Standort des Militärgalgens einer mittelalterlichen Stadt steht. Heute kann man wenigstens fliehen. Fliehen konnte man schon immer, aber heute wird man doch weitaus freundlicher aufgenommen. Die Ausnahmen, wie das alte Preußen, aber auch Russland, Amerika oder das Habsburger Reich, sollten gefeiert werden.
Viel zu sehr glauben wir Loser, dass Innovation in die Geschichtsbücher gehört. Vielmehr reicht es, wenn die Innovation die Herzen erreicht. Innovation ist alles, was über den reinen Broterwerb und die bloße Pflichterfüllung hinausgeht. Die großen Denker haben unter Pflicht freilich etwas anderes verstanden: die Pflichten, die wir am Menschengeschlecht haben, deren Erfüllung uns erst zu Menschen macht. Jede Ordnungsmacht nutzt den Widerspruch aus, der sich zwischen den rein semantischen Unterschieden eines einzigen Wortes auftut, ja, sie fördert das Missverständnis. Jede Diktatur tut so, als sei ihr meist durch Zufälle nach oben gespülter Unrat Heil und Heiland zugleich.
Und wir, die Loser, glauben den Sprüchen und Botschaften, ohne sie zu befragen. Wir befragen auch uns nicht genügend, denn sonst würden wir nicht immer und immer wieder den entrollten Lügenfahnen hinterherrennen. Das ist bekanntlich ein Zitat aus Goethes Faust II. Der Vorsitzende der NPD hat es neulich im Schweriner Landtag Walther von der Vogelweide zugeschrieben. Wir wollen nicht auf die Unbildung des Migranten Pastörs verweisen, sondern auf den Ge- und Missbrauch von Sprüchen.
Im untergegangenen Ostblock wurden die sogenannten Klassiker des Marxismus-Leninismus nicht nur in Vorlesungen und Reden zitiert. Einige dieser Zitate sind in die Spruchweisheiten gelangt. Sie dienten gleichzeitig und gegenseitig zum Beweis des Systems und das System bewies mit seiner Existenz die Sprüche. Wir sind heute zurecht schockiert, wenn eine politische oder wissenschaftliche oder wirtschaftliche Instanz Demokratie und Transparenz vernachlässigt, um die Interessen eines Chefs zu verwirklichen. In der Diktatur ist das gang und gäbe, der uralte Ausdruck für Zeitgeist, und wird mit Sprüchen getarnt.
Es war einmal ein armer kleiner Maurerlehrling. Der musste einen Aufsatz über sich schreiben, aber das konnte er nicht. Schon immer hatte er große Probleme, wenn er etwas schreiben sollte. Zudem konnte er auch nicht öffentlich sprechen, was aber seine Lehrer nicht störte. Immer wieder demütigten sie ihn. Kurz gesagt, gehörte Deutsch nicht gerade zu seinen Lieblingsfächern und deshalb wollte er auch nicht Schriftführer oder Schriftsteller werden, sondern Maurer. Aber er hatte schon eine Idee für diesen Text. Er wollte sagen, dass er schon fähig wäre, etwas zu tun, wenn seine Mutter ihm dabei helfen würde, wenigstens, indem sie ihn erinnerte, mahnte, kontrollierte. Und um das zu sagen, fiel ihm ein Spruch ein, der damals in allen Zeitungen stand, von allen Rednern eifrig zitiert wurde, allgegenwärtig war, vielleicht war er auch auf seiner Jugendweihe zelebriert worden. Er schrieb: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Zwar wurde er etwas unsicher, als er es geschrieben hatte, aber er blieb doch dabei. Und er war immer unsicher, wenn er etwas schreiben oder öffentlich sagen musste. Als er seine Arbeit zurückbekam, saß er mit roten Ohren da, wie immer, ein blonder Junge, unsicher über sich selbst und die Welt. Der Lehrer sprach: Das ist ein hervorragender Text. Du hast etwas großartiges geschrieben, vielleicht sogar entdeckt. Der Junge wurde über und über rot und sagte: Es kann sein, dass ich etwas verwechselt habe. Nein, nein, sagte der Lehrer, du hast nichts verwechselt. Du hast erkannt, wie es richtig heißen muss. Und wenn du heute nach Hause kommst, sagst du dir deinen Satz hundertmal gegen den Spiegel. Und immer wenn du ihn dann andersherum, hörst oder liest, wirst du wissen, dass du richtig bist und die anderen falsch sind. Und ich sehe das, sagte der Lehrer, ab heute auch so. Und weil du uns einen großen Schritt vorangebracht, wird dein Text als der jahrgangsbeste ausgezeichnet, wie Lehrer so reden.
Wenn man nachts die Landsberger Allee in Berlin stadteinwärts fährt, und ein wenig sinnlose Gespräche führt, einfach um wacher zu bleiben, dann fällt einem vielleicht der angebliche Urheber des ursprünglichen falschen und dummen Spruchs ein, der durch einen leider namenlos gebliebenen blonden Maurerlehrling mit immer roten Ohren korrigiert wurde. Aber vielleicht fällt einem auch nur der Film GOOD BYE LENIN ein, aber vielleicht ist das ganze Leben überhaupt nur ein dejá vue?
Mir fielen diese Geschichte, dieser Spruch und seine Umkehrung wieder ein, als ich die CD einer bemerkenswerten Deutschrockband hörte, nämlich AnnenMayKantereit, und da heißt es: Vertrauen ist gut, Kontrolle für Besserwisser…
*heute: ein kleiner Maurerlehrling im alten Ostberlin