wer die Sagen hat das Sagen

Eines der bitterbösen Zornthemen der neuen Rechten ist der von ihnen so genannte Genderwahn. Absichtlich wird die Erkenntnis einfach umgedreht: es geht nicht um Anerkennung und Integration von Phänomenen, die es schon immer gab, sondern umgekehrt: neue Probleme entstünden durch falschen Sexualkundeunterricht und eben jenen Genderwahn der linksgrünsversifften 68er Gutmenschen.

Nicht das oft unermessliche Leid der Erniedrigten und Beleidigten steht bei den Ordnungsfanatikern im Zentrum, sondern die Ordnung, die Regel. Verfolgt wird die Ausnahme. Auch frühere Generationen sind nicht entschuldigt, denn das Gebot der Nächstenliebe ist älter als dreitausend Jahre, seit zweitausend Jahren Bestandteil von Sonntagspredigten, Schulunterricht und Staatsreligion, aber schwer zu verinnerlichen, denn jede geduldete Ausnahme von der Regel wurde als existenziell bedrohlich gefunden.

Früher wurden Söhne, bevor sie geboren waren, schon in die Wirtschaft hineingedacht. Wurde eine Tochter geboren, war man enttäuscht und begann, Heiratschancen zu berechnen. Wurde aber ein Hermaphrodit geboren, und das alte deutsche Wort Zwitter zeigt, dass es das schon immer gegeben hat, dann war man entsetzt bis zur Mordbereitschaft. Das war die gute alte Zeit, gelebtes Christentum. Man glaubte an die soziale Epidemik abweichenden Verhaltens, obwohl der empirische Befund ein anderer war. Tatsächlich hat eine Variation keine Auswirkungen auf die Mehrheit. Die normative Kraft des Faktischen verändert nicht die Mehrheitsverhältnisse, schon deshalb nicht, weil auch das Narrative eine normative Kraft hat. Körperliche, psychosomatische oder psychische Besonderheiten wurden verheimlicht, verurteilt oder sogar verfolgt. Wir lehnen heute körperliche Strafen bis hin zur Todesstrafe ab, insofern sind die ehemals verfolgten Phänomene überhaupt nicht mehr wichtig. Aber für die Betroffenen ist jetzt endlich die Zeit des offenen Lebens angebrochen. Niemand muss sich mehr verstecken, jeder, jede und jedes kann sich outen und Respekt der Mehrheit einfordern. Die Glotzerei auf den Straßen hat aufgehört, Schwulenklatschen gehört der Vergangenheit, kein Wohnungsvermieter oder Hotelbesitzer interessiert sich für das Intimleben. Eltern sind allerdings immer noch überfordert, indem sie antizipierend das an ihren Kindern verstehen und eventuell auffangen müssen, was diese selbst noch nicht benennen und erklären können. Die Normalität der Gleichheit und Gleichberechtigung zieht endlich in Europa ein. Genug Hexen mussten über die Jahrhunderte sterben.

Mensch und Raubtier hätten nicht gemeinsam Platz in der Natur, das Böse müsste weichen. Sogar in der Großstadt können gefährliche Tiere mit dem Menschen zusammen leben, wenn dieser nicht glaubt, dass er der Herr sei. Wieder ist es die Hierarchie der Norm oder die Norm der Hierarchie, die glauben macht, dass sie die natürliche Ordnung sei. Tatsächlich aber gibt es in der Natur keine Hierarchie und in der menschlichen Gesellschaft auch nur in der vordemokratischen und patriarchalischen Zeit. Weder hat es sie im Matriarchat noch in der Zeit der Jäger und Sammlerinnen gegeben. Aus der historischen Ordnung der gleichberechtigten und gleich innovativen Jäger und Sammlerinnen wurde mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit und dem damit ermöglichten Bevölkerungszuwachs die Sorge um die Kinder zur Hemmung der Gleichberechtigung. Das sind alles verschiedene historische Lebensmuster, keinesfalls gibt es nur eines, weder zeitlich noch räumlich. Auch heute gibt es parallele Lebensweisen. Die Lebensweise erschien nur solange homogen, wie Zeit und Raum der Erkenntnis eng begrenzt waren. Der vermeintliche Fortschrittsvorteil der 1000 Jahre europäisch-christlicher Kultur ist teuer erkauft mit Mord, Totschlag, Kolonialismus, Umweltzerstörung.

Wie oft muss man das eigentlich noch sagen? Wolf und Bär wurden ausgerottet, weil sie als Konkurrenten in der als Jagdgebiet des Menschen aufgefassten Natur erschienen. Der Preis dafür ist ein fortwährendes Ungleichgewicht, eine Überpopulation an Rehen und Wildschweinen. Gleichzeitig wurden durch die Monokulturen weitere Tierarten fast gänzlich vertrieben: der Feldhase, einst Symbol der Fruchtbarkeit, Feldhamster und Siebenschläfer als Metapher der Vorsorge und Vorratswirtschaft. Mag manch einer den starken Rückgang der Insekten und Vögel als undramatisch empfinden, der Wolf steht uns, wir haben es hier schon mehrfach beschrieben, besonders nahe. Er ist das erste domestizierte Tier. Wir haben ihn als Teil unserer Natur adaptiert. Gleichzeitig ist er uns aber Symbol des Bösen, des Raubs, der Grausamkeit. Diese Ambivalenz müssen und können wir mit neuem Verständnis auflösen. In Mumbai, ehemals Bombay, das ist eine ziemlich große Stadt in Indien mit über 20 Millionen Einwohnern, 28.000 pro Quadratkilometer, leben 40 Leoparden, und nicht nur im Sanjyi-Gandhi-Nationalpark, der fünfzigmal so groß ist wie der Berliner Tiergarten. Die stark verkürzte Begründung für dieses nicht immer harmonische, aber doch auch natürliche Zusammenleben ist in einer Religion zu finden, die nicht den Menschen an die Spitze einer Hierarchie setzt. Damit ist die Einsicht gewonnen, dass sich nicht der Leopard, sondern der Mensch ändern muss. Davon sind die Jäger der Ueckermünder Heide, einem der dünnstbesiedelten Gebiete der Welt (25/km2), meilenweit entfernt. Die Feindschaft entstand in Zeiten der Not, sie sollte die Zeiten des Wohlstands nicht überdauern.

Wenn also Not herrscht, ist Autokratie verständlich, aber nicht hilfreich. Hierarchie ist historisch erklärbar, aber nicht begründbar. Warum klammern sich zehn Prozent der heutigen Menschen an Denk- und Herrschaftsmodelle der Vergangenheit? Autokratie ist immer im Angebot, weil es immer Politiker gibt, die den schnellen Weg zu einer sonst nicht üblichen Machtfülle suchen und finden. Erst mit dieser Machtfülle wird Bereicherung und Korruption sinnvoll. Weiterhin gibt es immer eine Asymmetrie zwischen den Generationen. Die junge Generation beherrscht die innovativen Methoden, aber es mangelt ihr an Inhalt und Sinn, die Alten dagegen haben Sinn und Inhalt in Überfülle.

Statt nun, wie soeben das Dreikönigsgymnasium in Köln, die Schüler des Leistungskurses Informatik (12. Klasse) zu Managern zu schicken, die ein erhebliches Defizit ihres Methodenkatalogs entdecken und mit ihren jugendlichen Mentoren überwinden können. Sie bremsen an denselben Stellen wie die dümmsten und reaktionärsten AfD-Propagandisten: sie glauben, dass der Schaden, das Niemals-100%-Sein, die Überfremdung und Dekulturisierung stärker sind als der Nutzen und die Innovation. Wir erleben einen gewaltigen Umbruch, die von Nietzsche vorausgesagte Umwertung aller Werte. Aber das wird kein – und war noch nie ein – Austausch mit einer beliebigen anderen, bereits vorhandenen Kultur. Jeder, der hierher kommt, lernt Deutsch und hört die Glocken läuten. Aber neben der Sprache gibt es weitere Kommunikationsmöglichkeiten, das Bild, das Symbol, den Film, das Narrativ. Wer die Sagen hat hat das Sagen. Insofern ist, und das scheint mir ganz natürlich, die Jugend erst einmal im Vorteil. Das ist das einzige, was immer schon so war. Sodann wird es aber auch Verschiebungen räumlicher Art geben. China überholt uns alle, was den Ausstoß an Industrieprodukten betrifft. Umweltmäßig befindet es sich im Liverpoolkapitalismus. Indien geht den besseren Weg über Bildung für alle, dieser ist aber naturgemäß länger und schwieriger. Das größte Potential sehe ich in Afrika. Zunächst erschreckend ist in Afrika der Bevölkerungszuwachs, Afrika wird 2050 zwei Milliarden Einwohner haben, davon die Hälfte unter 17 Jahren. Jeder sieht die Bedrohung, die davon auszugehen scheint, kaum einer sieht die Chance. In 32 Jahren wird sich die Welt, die Weltwirtschaft, die Informationstechnologie und das Umweltverhalten der Menschen so krass verändern, dass die dann alten Menschen in den Industrienationen deutlich im Nachteil sein werden. In Afrika und weltweit werden Arbeitsplätze entstehen, von denen heute keiner etwas ahnt, so wie vor zehn Jahren (vor zehn Jahren!) keiner die universelle und komplexe Bedeutung des Smartphones voraussagen konnte. Kumulativ wächst also nicht nur die Zahl der Personen, sondern auch ihr Geist, ihr Potential. Schon heute ist es falsch, sich unter Afrikanern - und Indern, Chinesen - ausgemergelte Analphabeten vorzustellen. Sehen wir in ihnen lieber die Brüder und Schwestern, von denen wir bisher schon so viel geredet haben.

Wolf und Mensch können wir uns aufgrund unseres bisherigen sowohl dichotomischen als auch aggressiven Weltbildes besser vereint vorstellen. Aber vielleicht schaffen wir es, die heute vorherrschende Kultur durch eine Teiresias-Kultur zu ersetzen: Teiresias war sowohl Mann als auch Frau, blind und Seher, sterblich und unsterblich.

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