Nicht zu toppen ist der Bahnhof von Halbe. Zunächst denkt man an maurischen Stil, aber dann sieht man, dass es eindeutig Tudor-Gotik ist, in der er bröckelt. Denn, wieviel Mühe sich unsere Vorfahren auch immer gegeben haben, wir wissen sie oft nicht zu schätzen. Die Reichspost, von der Familie Thurn uns Taxis gekauft, und die Reichsbahn, beide mit der Reichseinigung von 1871 entstanden, waren einst nicht nur kommunikative Unternehmungen, sondern auch der Ausfluss eines paternalen Staates. Was man heute Service nennt, war einst die Fürsorge des monarchischen Staates für seine zwar Untertanen genannten, aber doch streng und gut behandelten Bürger. Die Unterdrückungsmechanismen dieses Staates sollen hier nicht verniedlicht werden, es geht nur um die Gebäude.
Das ganze große Land wurde mit einem Netz von Post-, Bahnhofs-, Forst- und Schulgebäuden, leider auch Kasernen überzogen. Während die Kasernen wegen ihrer oft gigantischen Ausdehnung gut umgenutzt werden können, die Schulen noch bestehen, verfallen die Bahnhöfe und Postgebäude.
Die Mobilität ist von einem kollektiven und klassifizierten Spaß zum Individualverkehr heruntergesunken. Die Autobahnen, die kongenial die Eisenbahnen imitierten, haben den Wettlauf gewonnen. Zwar gibt es immer noch bedeutenden Güterverkehr auf der Schiene, aber der Personenverkehr ist zum Kummerkasten der Nation verkommen. Statt seine gigantischen Ausmaße zu beachten, wird jede Verspätung so gezählt und multipliziert, als hinge von ihr das weitere Leben der Reisenden ab.
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Obwohl die Post täglich siebzig Millionen Briefe befördert, beklagen Verbraucherschützer den Verlust von siebzigtausend Briefen pro Tag, was die Post als absurd bezeichnet, und wir alle beklagen, dass wir keine Briefe mehr erhalten, sondern nur noch Rechnungen, Mahnungen und Strafbefehle. Der Grund dafür liegt aber eindeutig darin, dass wir keine Briefe mehr schreiben. Unsere falsche Optimalvorstellung geht davon aus, dass alles so bleibt wie früher, aber auch gleichzeitig so wird wie morgen. Wir wollen Briefe erhalten, obwohl wir selbst keine mehr schreiben. Wir wollen keine Mahnungen, obwohl wir die Rechnungen nicht bezahlen. Wir regen uns über Fahrpreis- und Portoerhöhungen auf, obwohl wir mit dem Auto fahren und telefonieren statt Briefe zu schreiben. Das Unbehagen an der Kultur ist vielmehr ein Unbehagen an der Innovation. Wir trauen, mangels Ganoven, uns selbst nicht über den Weg. Die Zeitungen berichten, mangels Ganoven, von abgerissenen Zweigen in Pfaffenhofen und der Rettung einer Katze aus dem siebenten Stockwerk eines Hauses in Bochum. Das mag aber alles unter 'gefühlte Temperatur' gezählt werden, die, damit wir nicht selber fühlen müssen, auf unserem Telefon angezeigt wird.
Tatsache ist aber der Verfall der schönen Gebäude aus der zweiten Hälfte des neunzehnten und ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. So wie die Errichtung dieser Gebäude, lange bevor Lord Keynes Gedanken wirkmächtig wurden, ein Beispiel für antizyklische Investitionen waren, könnten sie es erneut werden. Statt die schwarze Null im Staatshaushalt wie das Goldene Kalb zu feiern, sollten zügig entschuldet und investiert werden. Regulierend kann der Staat aber auch eingreifen, indem er statt ständig Papphäuschen für prosperierende Discounter zu genehmigen, Altimmobilien anpreist und ausweist.
Mit dem Satz 'Der Hauptbahnhof von Osnabrück sieht aus wie ein Zitat der Kalenderhane-Moschee in Istanbul.' kann man nicht nur Deutschtürken und Rechtsradikale erschrecken, er zeigt auch, wie gelungene Kontinuität aussehen kann. Denn die genannte, eher kleine Moschee war vor 1453 eine Kirche gewesen und Mehmed II. soll sie persönlich und ausdrücklich zur Moschee mit Suppenküche für die Armen bestimmt haben. Umnutzung kann also den Wertewandel begleiten, es ist dabei gleichgültig, ob es vielleicht umgekehrt ist. Etwas bewahren, sagen wir an die Adresse des Konservatismus gerichtet, kann ja nicht heißen, seine Bewegung aufzuhalten. Die Bewegung anhalten heißt töten. Eine lohnende Aufgabe für Konservatismus und Nationalismus wäre es also, diese beiden Gefühlsrichtungen aus ihrer provinziellen Enge zu befreien. die Beschränkung auf sich selbst kann nie Vorteile für sich selbst bringen. Wenn man aber gleichzeitig bewahrt und ehemals der Kommunikation dienende Gebäude einer neuen Bestimmung zuführt, nützt man sich und gleichzeitig anderen. Statt also in Angst zu vergehen, dass 'Umvolkungen' und 'Islamisierungen' stattfinden, sollte man seinen Mut zusammennehmen und Vereine zur Rettung autochthonen Kulturguts gründen, Wettbewerbe ausschreiben, Schulklassen begeistern. Tun ist immer besser als lamentieren.
Als Übungsaufgaben kann man damit beginnen, einer sechsten Klasse im Rahmen des Musikunterrichts die Nachhaltigkeit einer Orgel gegenüber einem Keyboard oder einem Smartphone zu erklären, ohne aber diese zu verteufeln. In einem nächsten Schritt könnte man einen Briefklub in der ortsansässigen Grundschule gründen. Briefe gehören zu den fundamentalen Kulturtechniken. Sodann kann man einen Verein zur Umwertung örtlichen Post oder des Bahnhofs gründen. Während sich für die Post immer Wohnungen als Umwidmung anbieten und meist kein Problem bereiten, muss über den Bahnhof, schon wegen seiner oft exklusiven Lage, besonders wenn die Bahnlinie noch intakt ist, lange nachgedacht werden. Der lokale Raumbedarf ist meist gut abschätzbar. Viele Orte in Europa benötigen nicht zwei Kulturhäuser oder noch nicht einmal einen Jugendklub. Aber auswärtige Investoren kennen die Vorzüge der speziellen Immobilie nicht. So gibt es Bahnhöfe von außerordentlich schöner Architektur, von besonderer Lage, mit niedrigem Kaufpreis, großen Räumen. All das kann der Verein durch Veranstaltungen, Broschüren, Bücher, Filme und Webseiten bekanntmachen.
Allen Utopien wird immer wieder Realitätsverweigerung unterstellt, jedoch vergessen die selbst ernannten Realisten, dass alle Realität aus der Utopie geboren wurde und dann erst den Umständen angepasst wird: am Anfang war das Wort. Aber das Wort, die Idee ist nicht identisch mit einem omnipotenten Demiurgen. Deshalb wir zum Schluss auf den Gebäudetyp verwiesen, der am schwersten integrier- und umdeutbar ist. Seine Lage hat er mit dem Bahnhof gemeinsam, von dem ihn aber die fehlende humane Dimension trennt. Von vornherein ist er wegen seiner Herkunft gemieden. Die industrielle Revolution - das ist seine Herkunft - wird sogar von vielen Kulturkritikern als der Sündenfall, als Keimzelle des Untergangs angesehen, ohne dabei zu beachten, dass dieser Sündenfall gleichzeitig der Ursprung von Wohlstand und Freiheit ist. Die menschlichen Verhältnisse sind immer ambivalent, was dazu geführt hat, dass wir in bipolaren Krankheiten versinken und dichotomischen Paradigmen anhängen. Das Gebäude, mit dem wir den Schatten jedes Segregationismus ablegen könnten, wenn wir in der Lage wären, es in die moderne Welt zu integrieren, obwohl es von seiner Zweckbestimmung her nicht mehr gebraucht und von vielen noch nicht einmal mehr erkannt wird, ist der Lokomotivschuppen.