Wir brauchen Bestätigung genauso wie Widerspruch, Zweifel, unerschütterliche Beweise und Treue. Ohne Loyalität würde keine Gesellschaft überleben. In diesem Spannungsfeld könnten wir auch gut auskommen, wenn nicht neben jeder Wahrheit der Wahn wohnen würde.

Jeder Fehler ist uns recht, wenn unsere Gruppe ihn mitmacht oder wir sogar der Gruppe in diesem Fehler vorangehen können. Wir wollen nicht lernen, wenn wir uns bestätigt sehen. Wir übersehen mit Absicht, dass die Bestätigung nur durch die Loyalitäten oder durch das Beharren auf einem Standpunkt zustande kommt. Der Standpunkt ist mit großer Wahrscheinlichkeit falsch, weil nichts außer dem Standpunkt stehenbleibt. Zu schnell geben wir uns mit einem Grund zufrieden, obwohl wir wissen, dass es immer tausend Gründe und tausend Folgen gibt, die wir nicht fassen können.

Wir finden tausend Gründe, um nicht gut handeln zu müssen, weil wir das schöne Bewusstsein haben, dass wir gut sind. Diese Art von Gutsein kann eigentlich nur durch eine Gruppenzugehörigkeit entstehen. Insofern wäre die Kritik, die durch den negativen Gebrauch des Wortes 'Gutmensch' geübt wird, sogar richtig, wenn nicht das Schlechtseindürfen seine Begründung ebenfalls nur in der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestünde, die gegen Toleranz, gegen Einwanderung, gegen Nächstenliebe, gegen Aufklärung, gegen Demokratie ist.

Ein Sprayer mit Abitur - bekämpft von der Gruppe der Saubermenschen - hat am Frankfurter Hauptbahnhöfchen diesen Satz des unglücklichen, großen Kleist angebracht, die Denkübung, was besser sei, gut zu sein oder gut zu handeln. Kleist war damals mit dem Nachbarsmädchen verlobt, erkannte ihre große Intelligenz - sie heiratete später einen berühmten Philosophieprofessor - oder wollte ihre Denkfähigkeit der seinen angleichen oder wollte mit ihr brieflichen Spaß haben, jedenfalls stellte er ihr Aufgaben, die sie auch alle zu seiner Befriedigung löste. Für uns ist es interessant, dass Kleist also die gleiche Bipolarität kennt und beschreibt, wie wir sie heute vorfinden. Das Rechts-Links-Schema aus dem alten Reichstag, das Ost-West-Schema aus dem kalten Krieg, sehr viele religiöse Menschen, leider auch die Demokratie - sie alle gehen davon aus, dass der Mensch besser sein könnte als seinesgleichen. Dass Demokratie der Diktatur weit überlegen ist, obwohl auch die Diktatur Vorteile hat, das dürfte schnell einleuchten, jedoch sind das nicht die beiden einzigen Staatsformen. Wird zum Beispiel die Monarchie nicht für die Begründung von Kriegen missbraucht, so spricht doch nicht so viel gegen die Loyalität zu einem Herrscher wie Friedrich II. von Preußen oder Christian X. von Dänemark. Wie man aber eine Kirche ('wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen';) nach einem gewalttätigen Heerführer nennen kann, nur weil er auf der 'richtigen' - also meiner - Seite war und weil er im Glauben seiner Anhänger der bessere Mensch war, das wird sozusagen das ewige Kleistische Rätsel bleiben. Dass der Heerführer, Gustav II. Adolf von Schweden, in seinem Land verehrt wird, dagegen spricht nicht soviel. Wir verehren auch Friedrich II. unter Auslassung seiner sinnlosen Kriege. Dass aber diese Art von Gutsein genauso brüchig und flüchtig ist wie jede Art von Menschsein, kann man leicht daran erkennen, dass die Tochter Gustavs II., Christina von Schweden zum Katholizismus konvertierte. Wie zum Trotz gegen alle diese Rechthaber wurde sie eine Vorkämpferin für religiöse Toleranz, für Frauenemanzipation , für Kunst und Wissenschaft.

Während Kleist in Europa herumreiste, sozusagen von Rom bis Pasewalk unterwegs war, musste seine Verlobte im Kloster Lindow, ein ebenso evangelisches wie adliges Fräuleinstift, oder im Frankfurter Nachbarshaus seine Aufgaben lösen oder über seine Lösungen nachdenken.

Uns erscheint unsere Welt als komplexer und differenzierter, verglichen mit jener vor zweihundert Jahren und überhaupt verglichen mit jeder vor uns. Dabei wird auf der einen Seite die vermeintlich einfache Vergangenheit als Idylle verklärt, auf der anderen Seite genauso gerne als roh und grausam verteufelt. Aus der Vergangenheit kommt niemand, um unseren oft rohen Ansichten zu widersprechen Zweifelsfrei sind seit jeder Vergangenheit unsere Erkenntnisinstrumente sensibler geworden, wie die Jetztzeit immer als differenzierter empfunden wird. Niemand widerspricht seinem Smartphone oder - in der Periode davor - dem Fernsehen. Das Fernsehen, heute zum reinen Zeitvertreib verkommen, hatte einst die Funktion des perfekten Spiegels. Niemand bezweifelte die zweifellos grausamen Bilder aus dem Vietnamkrieg, die uns monate- und jahrelang zum Abendessen begleiteten. Aber niemand bemerkte auch die langsam entstehende Allianz der Kriegsgegner auf beiden Seiten, obwohl das eine Fernsehen eindeutig gegen die Vietcong genannten Vietnamesen, das andere Fernsehen genauso eindeutig gegen die Aggressoren genannten Amerikaner berichtete. Es gibt keinen Spiegel. Wenn man das Fenster aufmacht, sieht man nicht die Welt, sondern das, was man für die Welt hält oder halten möchte oder halten soll. Kommt noch ein Kommentator hinzu, so müssen wir zusätzlich dessen Weltsicht verarbeiten und dessen Widersprüche aushalten. Das ist auf der einen Seite oft hilfreich, weil wir zum Beispiel mit bloßem Auge Pestizide nicht erkennen können, die den Baum - oder die Bienen auf ihm - zerstören. Was aber, wenn der Kommentator Kommunist ist oder Protestant oder Kardinal oder Salafist oder unser Bruder, der Salafist geworden ist? Auf unseren dementen Vater wollen wir nicht hören, aber wir wählen ohne Bedenken greise Politiker, obwohl wir wissen, dass deren Weltsicht durch Altersmilde oder Altersbosheit getrübt ist.

Was aber, wenn der Spiegel blind ist oder schief hängt? Wer hätte schon je mit dem Telefon Weltgeschichte erfahren? Wessen Weltsicht widersprach nie einem Buch oder einem Mitmenschen? Oder welches Buch widersprach nie einer Weltsicht? Die älteren Gedanken müssen nicht zwangsläufig die falscheren sein, die neueren ebenso wenig die richtigeren. das Telefon zu verteufeln wäre genauso falsch, wie das Buch zu verbrennen. Mündigkeit bezieht sich nicht nur auf Menschen, und der große Kant aus Königsberg hat in seinem berühmten Aufsatz über Aufklärung den Gängelwagen als Metapher benutzt in dem die kleinen Kinder laufen lernen, aber den großen Menschenkindern die Richtung vorgegeben werden soll. In Königsberg sind übrigens Raketen stationiert, die nicht uns bedrohen können, aber die Königsberger, die jetzt Kaliningrader heißen, glauben machen sollen, dass es gut sei, uns zu bedrohen.

Wie mancher Mensch würde aufhören, über die Verderbtheit der Zeiten und der Sitten zu schelten, wenn ihm nur ein einzigesmal der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. KLEIST an Wilhelmine von Zenge, November 1800, Sämtliche Werke und Briefe, dtv, Band 2, S. 605

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