Zu den großen Gruppen, die wir immer für gut halten, lassen wir uns gerne zählen. Männer sind meist mit Stolz Mann, Frauen mit Freude Frau, jede Nation hält sich selbst für groß und einmalig, so wie jeder Mensch von sich glauben muss, dass er richtig ist. Aber von diesen beiden großen Gruppen abgesehen, Geschlecht und Nation, lassen wir uns nicht gerne von außen in Gruppen einteilen, wiewohl wir uns immer als Mitglied von Gruppen fühlen.
Nation, Rasse und Hierarchie sind eindeutig Konstrukte historischer Situationen und man könnte sagen des jeweiligen Zeitgeistes, wenn nicht Zeitgeist schon wieder von seinen Gegnern als Pejorativ empfunden würde. Dabei ist Zeitgeist nichts weiter als die Summe aller Interpretationen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte Ernest Renan in seinem berühmten Vortrag, dass es zu diesem Zeitpunkt ganz verschiedene Qualitäten des Zusammenlebens gab, die sich alle, nach dem Zeitgeist, Nation nannten: Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich als diffuse Gebilde, Frankreich und Schweden als relativ homogene Gebietsvölker, Deutschland und Italien dagegen als späte Patchwork-Teppiche. Der Begriff der Rasse, bis dahin nur für Pferde üblich, wurde durch den Sklavenhandel und die Kolonialreiche notwendig. Wie hätte man sonst erklären sollen, dass ein Christ, laut der Bibel alles Kinder Gottes, dient und geschlagen wird, der andere bedient wird und aber schlägt, der Fleißige dem Faulen sogar die Hand oder den Kopf abschlagen darf? Hierarchie dagegen ist Sozialdarwinismus, bevor es Darwin gab. Viele Fundamentalisten glauben, dass Darwin mit seiner Evolutionstheorie die Schöpfungsgeschichte angreifen wollte. Vielmehr entdeckte er das multiple Ineinandergreifen verschiedener Lebewesen in einem abgegrenzt vorgestellten Raum, den wir heute Biotop nennen. Erst aus diesem Zusammenwirken ergibt sich die zeitliche Veränderung, die Historizität, die Evolution, das Aussterben von Arten und schließlich auch die Migration. Wer Darwin gelesen hat, weiß, dass er kein Ideologe war wie so viele seiner Gegner, sondern ein Beobachter und Wissender der Sonderklasse.
Aber ist Geschlecht auch ein Konstrukt? Simone de Beauvoir, die Gattin Jean Paul Sartres, hat es früh behauptet. Je mehr Männer sich in Frauen wandeln, Frauen in Männer, und es ein drittes, anderes Geschlecht gibt, als das früher schon die Homosexuellen angesehen wurden, desto mehr werden wir Simone de Beauvoir glauben müssen. Unnötig zu betonen, dass es diese Mitmenschen schon immer gegeben hat, nur dass man sie früher diskriminierte, diskreditierte, lächerlich machte, folterte, demütigte, als Hexen verbrannte oder einfach in den nächsten Brunnen warf. Unnötig auch zu erwähnen, dass es eine minimale Gruppe ist. Weder die Stadt noch der Erdkreis werden zusammenbrechen, wenn sie eine eigene Toilette erhalten.
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Nicht die Gruppen sind neu, und nicht der Drang, Gruppen anzugehören, ohne von anderen in sie gesteckt zu werden. Neu ist, so scheint es, der Zwang, andere sofort in eine möglichst negative Gruppe einordnen zu müssen und damit die eigene Gruppe zu erhöhen.
Ein Bischof* beispielsweise sagt, dass ohne Gott unsere Gesellschaft erbarmungslos würde. Damit kritisiert er sowohl die allzu berechtigte Kritik von Yesus, als auch jeden Menschen vor den monotheistischen Religionen. Die Bezeichnung Heide ist nichts weiter als die Konstruktion einer nichtswürdigen Gruppe. Mit welcher sozialen Kraft sollen die Menschen vor Gott oder bevor sie Gott kannten überlebt haben? Und welche Kraft trieb Gandhi an?
Ein Bundestagsabgeordneter** der AfD dagegen schreit, dass Deutschland nicht der Weltsamariter sein kann. Interessant ist, dass er die Yesuskritik*** als Metapher benutzt, im Gegensatz zu dem ungläubigen Bischof. Aber wie kommt er darauf, dass Deutschland nicht der ganzen Welt helfen kann? Deutschland hat der Welt das Automobil und die Schallplatte geschenkt, den Suppenwürfel und das Aspirin. Warum sollte nicht demnächst in diesem Land eine Idee geboren werden können, die Liebe und gerechtere Verteilung mit nachhaltiger Wirtschaft in einer waffenlosen Welt schaffen kann? Und warum sollte nicht diese Idee von einer fähigen Regierung, die es bisher alle hundert Jahre einmal gab, umgesetzt werden können? Niemand hätte gedacht, dass es afrikanische Einwanderer sein könnten, die in der gesamten britischen Presse als die talentierteste britische Familie gelten, die Familie von Dr. Kadiatu Kanneh und Stuart Mason aus Nottingham und ihre sieben Kinder. Niemand hätte gedacht, dass Amerika einen afroamerikanischen Präsidenten haben könnte oder dass in einem wichtigen Land einst eine Frau regieren wird. Was tat übrigens Maria Theresia? Hat sie nicht auch regiert oder hat sie nur sechzehn Kinder bekommen?
Wir haben wohl alle übersehen, das dass Demokratie und Wohlstand auch Nebenwirkungen haben, zu denen wir niemanden fragen können. In einer Hierarchie können wir den jeweils über uns gesetzten fragen. Aber wen fragen wir, wenn die Hierarchien und die ungläubigen Bischöfe auf ihren goldenen Toiletten als Konstrukte und Schwätzer enttarnt sind? Wir müssen aufhören, im Nachbarn den Angehörigen einer feindlichen oder auch nur fremden Gruppe zu sehen und anfangen, seine Erfahrungen in die unseren einfließen zu lassen. Wenn der Hauptinhalt der neuen Welt nur Liebe sein kann, und ich zitiere damit sowohl den vor fünfzig Jahren erschossenen Martin Luther King wie auch die heutige Hochzeitspredigt von Bischof Curry aus Chicago in Windsor Chapel, dann kann die Hauptmethode nur Vernetzung sein. Nicht der Computer gab uns die Idee ein, sondern der Computer ist, man erinnere sich, unser Erzeugnis. Man kann ihn ausschalten, benutzen oder als Metaphernspender verwenden. Die Notwendigkeit der Vernetzung und der findige Mensch fanden den Computer. Die Nebenwirkungen werden die Hauptsache nicht verdecken. Trotz dieses gesunden Optimismus, der sich nicht als Realismus ausgeben muss, muss mögliches Scheitern einkalkuliert werden. Was soll denn Realismus sein, der Glaube an die Wirklichkeit, die jetzt da ist und die ohnehin jeder sieht? Realismus ist so etwas wie der Wetterbericht, man kann auch aus dem Fenster sehen. Die Welt wird besser, wenn wir Ideale und Visionen haben und ihnen folgen. Vorbild ist der erste Mensch, der dem Realismus 'DER MENSCH KANN NICHT FLIEGEN' trotzte. Jede These ist Hypothese. Alles Wissen ist Glauben.
Wie mancher Mensch würde aufhören, über die Verderbtheit der Zeiten und der Sitten zu schelten, wenn ihm nur ein einzigesmal der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. KLEIST an Wilhelmine von Zenge, November 1800, Sämtliche Werke und Briefe, dtv, Band 2, S. 605
* Bischof Ipolt, Görlitz, Thüringer Allgemeine Zeitung vom 29.7.2017
** Wir wollen den Namen nicht wissen, vergessen auch Sie ihn!
*** Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner, Lukas 10,25-37, in dem alle Würdenträger an einem Bedürftigen vorbeigehen und erst der verachtete Samaritaner hilft