Die Episoden können sich nicht schnell genug in Anekdoten verwandeln. Die Erzähler bleiben zurück, nicht weil die Ereignisse schneller und tiefer würden, sondern weil alles sofort und weltweit berichtet wird. Nicht die Welt ist aus den Fugen, sondern alles Ungefügte ist im Moment des Geschehens schon auf den Monitoren der Welt, dann einen Tag in einer schnellen und weitgehend unreflektierten Diskussion, aber dann wird schon die nächste Episode gesendet. Die Welt, wir Menschen und unsere Ereignisse werden zu einer TV-Serie des lieben Gottes, Folge 5962. Wir sind nicht von allen guten Geistern verlassen, sondern wir haben keine Zeit, mit den guten Geistern zu sprechen oder auch nur auf sie zu hören. Als noch ein einziger Philosoph aus Königsberg seine Kommentare zum Weltgeschehen sandte HANDLE SO, DASS NICHT NUR DAS GUTE GESCHIEHT, SONDERN ANDERE SICH NACH DIR RICHTEN KÖNNEN, hatte man fünfzig Jahre Zeit, diese Botschaft zu bedenken und für sich anzunehmen oder abzulehnen. Keinesfalls haben früher alle Menschen alle Botschaften blindlings angenommen. Der Widerstreit der Botschaften ist so alt, dass unsere Vorväter ihn sogar in den Gründungsmythos der Welt aufgenommen haben: Gott machte zwei Brüder, einer sesshaft, der andere nomadisch, einer Ackerbauer, der andere Viehzüchter, einer sanftmütig, der andere jähzornig, einer nachdenkend, der andere handelnd, einer nach den Maximen handelnd, der andere sie durchbrechend, und dann schlägt der eine den anderen tot. Und als wäre das noch nicht genug Schaden, entwickelt der Mörder eine Theorie des Mordes, nach der Mord zur Leitkultur gehört, nach der es genügt, sich um sich zu kümmern und nach es erlaubt sei, sich zu schütteln und zu fragen: SOLL ICH MEINES BRUDERS HÜTER SEIN? Und im Jubel über diese Unverfrorenheit, diese Schnoddrigkeit, diese vermeintliche Freiheit von Moral und Ketten, hört er die Antwort nicht, die im Weltall widerhallt: oui, yes, ya.

Diese Schnelligkeit der Nachrichten, die eigentlich nur übermittelte Episoden sind, verringert auch die notwendige Distanz zu den Mitmenschen. Wem ich helfen will und muss oder wen ich lieben will oder muss, zu dem brauche ich Nähe. Wen oder was ich verstehen will, zu dem brauche ich auch Distanz. Respekt als Sonderform dieser Distanz reicht von soldatischer oder höfischer Unterwerfung bis zu einem Aspekt der eigenen Würde. Der Begriff der Würde ist wie der Begriff des Souveräns sozusagen umgedreht worden, von einer auserwählten Elite, für die sie früher nur galten, auf alle Menschen übertragen. Ein einzelner Herrscher herrschte souverän, er musste niemanden fragen, wenn er für sich und für alle entschied. Heute muss sozusagen das Volk niemanden fragen. Es entscheidet, von wem es regiert werden will. Dieser Vorgang, dass ein ganzes Volk sich eine Ordnung und eine Regierung gibt, ist derart kompliziert, dass er ohne ständiges Stolpern nicht zu meistern ist. Die Würde wurde früher durch Insignien, sichtbare Kennzeichen meist der Macht und erblicher oder elitärer Stellungen ausgedrückt. In der Umkehrung heißt es nun, dass die Würde jedes Menschen unantastbar sei. Für die universelle Verbreitung dieser komplexen Botschaft und dieses umfänglichen Imperativs reichen natürlich siebzig Jahre nicht aus. Immer wieder gab es lange Kainsperioden, waren Kainsmale die Epauletten der Macht. Der Krieg wurde zur Natur des Menschen erklärt. Der Wolf, der Babies aufgezogen, Städte gegründet und der beste Gefährte des Menschen und der Hüter seiner Brüder wurde, wurde zu Symbol, zum Emblem der Grausamkeit, Mordlust und Falschheit gemacht, wenn er nämlich im Schafspelz daherkam. Dass wir Menschen Schafe züchten, um sie zu ermorden und nicht weniger zu fressen als der Wolf, wird vergessen und verdrängt. Die heutige Massentierhaltung der westlichen Leitkultur ist weitaus grausamer als alles, was Wölfe je Vegetariern antun konnten. Dieselbe westliche Leitkultur konstatiert bei den Afrikanern ungenügenden Respekt vor der Kreatur. In dem Wort 'Kreatur' begegnen sich religiöser Sozialdarwinismus, Unterordnungsfantasien und Segregationswahn, und die Würde der Wesen in schöpferischen Prozessen. Wir sagen heute, dass die Kreatur kein niederes Tier ist, weil es keine niederen Tiere gibt, die Ameise, die schon paradigmatisch in der Bibel und im Koran erwähnt wird, ist nicht schlechter eingefügt als der Mensch, sondern eben Produkt, Schöpfung eines höheren Willens, ob er nun anthropomorpher Gott, hegelscher Weltgeist oder Evolution heißt, ist.

Die heutigen Insignienträger sind nicht mehr omnipotent, allmächtig, sondern omnipräsent, immer da. Wir blicken auf unser Smartphone und sehen Bundeskanzlerin Merkel und ihre Widersacher. Dieser falsche Fokus, auf den einst Richard Milhous Nixon, der tricky Dick genannt wurde, zum eigenen Nutzen mit der brillanten Formulierung der 'schweigenden Mehrheit' hinwies, derselbe Nixon, der auch die Ausnutzung der Wohlfahrt durch die Armen erfand, dieser falsche Fokus führt dazu, dass alle Nichtereignisse ausgeblendet werden. Es passiert nur das, was auf den Monitoren zu sehen ist. Das ist keine allzu neue Erkenntnis. Aber: wir sehen also die Bundeskanzlerin und ihre Widersacher, aber wir sehen nicht ihre Befürworter und wir sehen nicht uns. Aber: wir hängen zum Schluss von Kreaturen ab, die wir machten. Damit sind nicht, wie in Goethes FAUST unsere Kinder gemeint, sondern unsere Produkte. Der Mangel an Respekt folgt aus der mangelnden Distanz, diese wieder, weil das Ereignis zu wenig reflektiert, statt dessen vom nächsten Ereignis eingeholt wird. Reflexionen reduzieren sich allzu oft auf einen einzigen Satz.

So ist es möglich, dass eine Opposition, die sich national und sozial glaubt, in völliger Verkehrung der Verhältnisse ständig mit Obszönitäten und Absurditäten das eigene Land und dessen Würdenträger beschimpft und beschmutzt. Denn, obwohl die Würde jetzt bei jedem Menschen zuhause ist, gibt es in einer repräsentativen Demokratie trotzdem noch die herausgehobene Würde. Ständig präsent ist nur, wer ständig repräsentiert. Allerdings wird kaum ein Unterschied zwischen Fußballstar, Rockstar, TV-Star und Politstar gemacht. Die Leuchtkraft jener Sterne hat demzufolge eine geringe Halbwertzeit: wer kennt noch Richard M. Nixon?

Der französische Präsident Emmanuel Macron war vor ein paar Tagen bei einer Gedenkveranstaltung. Ein Junge, offensichtlich links, langhaarig und respektlos, begrüßte ihn nicht unfreundlich, aber flapsig: CA VA MANU?, was geht, Mann? Und Macron, der sowohl seine Würde als auch seine Insignien zurecht in Gefahr sah, antwortete dem Jungen sinngemäß etwa so: Das ist hier eine Zeremonie und du benimmst dich gefälligst so, wie man sich hier benimmt. Und zu mir sagst du gefälligst MONSIEUR LE PRESIDENT. Und die Antwort des Jungen ist es, die uns allen, allen voran aber diesen rechten und linken, nationalistischen, nationalbolschewistischen, segregationistischen, verlogenen und populistischen Widersachern fehlt. Die Antwort, die wir mit unserer Würde nicht so gerne vereinbaren wollen, die uns zu konservativ, zu respektvoll, zu unterwürfig, zu undemokratisch, zu unmodern erschiene, die uns aber fehlt, zu der wir uns erneut aufschwingen müssen, lautete: OUI, MONSIEUR LE PRESIDENT.

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