Jemand, der nicht einsieht, dass Schwesterlichkeit Brüderlichkeit zur Voraussetzung hatte, weil die Welt war, wie sie war, ist wie einer, der seine Eltern vor seiner Geburt umgebracht hat und sich dann wundert, dass er nicht da ist. Man kann die Vorgeschichte, die gesamte Geschichte ignorieren, aber nicht ungeschehen machen. Henry Ford meinte, als er Geschichte zu Quatsch erklärte, sicher das Auswendiglernen von Geschichtsdaten einerseits, andererseits das konservative Festhalten an ungeprüften oder nur scheinbar bewährten Überlieferungen. Zum Beispiel war man früher der Ansicht, dass das Verprügeln eines Menschen durch berechtigte Personen, wie zum Beispiel Väter, Lehrer, Polizisten, noch niemandem geschadet hätte. Dass die verprügelten Menschen willig in den Krieg zogen, umso williger, je mehr Mühe man sich gab, sie zu erniedrigen und zu motivieren, wird völlig ausgeblendet. So wie das Verprügeln für legitim gehalten wurde, sah man auch das Töten im Krieg. Überhaupt neigen wir dazu, einfache Zusammenhänge, zum Beispiel Kausalzusammenhänge, zugunsten komplizierter Zusammenhangsverästelungen zu bevorzugen. Wir vernachlässigen, was uns zu kompliziert erscheint. Die heutigen Medien, die der Gipfel demokratischer Meinungsbildung zu sein schienen, sind gerade die Meisterstücke des Ausblendens allgemeiner Zusammenhänge. Man könnte dies den Google-Filter nennen: gib dich selbst bei Google ein, und du hältst dich für bedeutend, weil du glaubst, dass die ganze Welt dich so sieht, wie du dich in deinem Google-Spiegel. Das elektronische Echo verfolgt dich nicht nur, sondern es überhöht dich. Du plapperst nach, was andere dir jeden Tag einflüstern, und glaubst, dass du eine dedizierte Meinung zu allen, aber auch allen Lebensfragen der Gesellschaft und der Geschichte hast. Das wurde durch fünfzig Jahre Talkshows eingeübt. Aber die heutigen Stichwortgeber und Einflüsterer sind nicht mehr Politiker, über deren Kompetenz schon beinahe wieder Einvernehmen herrscht, sondern bist du selbst mit der riesigen Gruppe der Menschen, die die Welt auch so sehen wie du. Die Eliten, von denen die Eisenbahn, das Automobil, das Internet abstammt, werden in Bausch und Bogen übel beleumdet. Aber als Unglück wird nicht die eigene Schwäche, das eigene Defizit, vielleicht auch die zufällige Verknüpfung widriger Umstände angesehen, sondern die Eliten, die Demokratie als die herrschende Regierungsform, der Fremde, der mit bittendem Blick am Gartenzaun steht.

Obwohl bei jedem der ebenfalls allgegenwärtigen Medikamente ein Zettel liegt, auf dem steht, dass beispielsweise der Kopfschmerz zwar schwindet, aber dafür auf Dauer die Niere geschädigt wird, das Herz gewinnt, aber der Magen verliert, obwohl also jeder von uns schon einmal solch einen zettel wenigstens teilwiese gelesen hat, negieren viel Menschen, dass jede Handlung, jeder Fakt auch tausend Gegenhandlungen und Echos hat. Wir blenden aus, was uns irritiert. Und dann irritiert, was wir zuvor ausgeblendet haben, wenn es nämlich ein anderer Mensch sagt, der nicht zu unserem Kreis gehört. Die Gruppe, der Freundeskreis, die soziale Schicht ersetzt, was früher Rasse, Klasse, Nation, Religion war. Die Globalisierung und Demokratisierung schieben sich nur langsam über die Menschheit, obwohl ständig von der zunehmenden Geschwindigkeit die Rede ist. Schneller sind immer die anderen. Obwohl bei jedem der letzten Kleinkriege, dem Eingreifen des Westens etwa in Bürgerkriege, umständlich betont würde, dass und wieviel und warum Zivilisten Opfer kriegerischer Handlungen sein könnten, und wodurch das gerechtfertigt wäre, nämlich durch den endlichen Sieg der Demokratie und der Globalisierung, glauben immer noch viele Menschen, dass eine Tat eine Tat ist und nicht tausend Gründe und tausend Nebenwirkungen hat.

Unsere Gesellschaft hat viele Jahrhunderte dafür gebraucht, herauszubekommen, dass Strafe weder wirklich abschreckt noch als Rache legitimiert werden kann. Schon im Alten Testament und parallel dazu in den Gesetzen des babylonischen Königs Hammurapi steht das Talionprinzip, das sich gegen Rache und Willkür richtete, und anscheinend wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert entdeckt, dass die Menschheit blind würde, wenn sie das konsequent und buchstabengetreu anwendete. In den Jahrzehnten der Stabilisierung der Demokratie gab es immer wieder Rückfälle in das alte Strafdenken und eine Minderheit hat sich immer wieder auf eine Gruppe von Menschen konzentriert, die aus der allgemeinen Vergebung fallen sollten. In Amerika, aber auch während des Kalten Krieges in Europa waren das zum Beispiel die Spione, dann die Mörder. Seit es immer weniger Mörder gibt, jedenfalls in Japan und Europa, sind es nun die Sexualstraftäter, besonders wenn es Fremde sind. Wie schon die Morde, werden die meisten Sexualstraftaten in der Familie begangen. Ein solcher Täter plant seine Tat wahrscheinlich weniger als der Kaufhausräuber, von denen es scheinbar auch immer weniger gibt. Wahrscheinlich wird die Abschreckung nicht viel helfen. Es hilft viel mehr Prävention, die Voraussicht, dass ein Kind in irgendeiner Weise gestört ist, könnte verhindern, dass es später, wenn es erwachsen ist zum Straftäter wird. Andererseits, das haben wir hier schon oft geschrieben, wird unser Sicherheitsdenken immer perfekter, so wie unsere Sicherheit und unser Wohlstand wachsen. Unser Fokus richtet sich auf die verbleibenden Taten. So wie wir den Terror nur zur Kenntnis nehmen, wenn er vor unserer Haustür stattfindet, und dahin projizieren wir ihn auch, so erscheint uns die Berichterstattung der Sensationen so, als ob unser grauer Alltag umstellt mit Sensationen wäre. Statt dessen wird über den Fehler eines Politikers genauso langte berichtet und diskutiert wie über die brüchige Ehe eines Schauspielers wie über die Beziehungstat in einem Einfamilienhaus in Tübingen, weil es keine wirklichen Sensationen gibt. Wir empfinden es nicht als Sensation, dass es seit dem letzten Krieg keinen wirklichen Krieg mehr gegeben hat. Statt dessen schauen wir gebannt auf die allerdings wirklichen schrecklichen Taten einiger Terrorgruppen. Weil fast alle Krankheiten von der Erde verschwunden sind, wird jeder einzelne Virus, man möchte beinahe sagen, als Sensation begrüßt. Und schließlich hungern zum Glück, zum Glück, immer weniger Menschen.

Und deshalb sind diese eigenartigen Meinungen von Minderheiten, dass wir wieder mehr Strafen, dass wir gar die Todesstrafe brauchen, dass Politiker zurücktreten müssen oder verhaftet werden sollten, dass die Polizei in jeder einzelnen Familie Untaten verhindern kann, dass das Böse wie die Vogelgrippe eingeschleppt wird, dass Kleidungsstücke verboten werden müssen, diese Meinungen sind zum Scheitern verurteilt. Das letzte Kleidungsstück, das in Deutschland verboten war, war die ‚Nietenhose‘, so wurden die Jeans von den Funktionären der DDR genannt. Und wo sind sie jetzt?

Nicht nur Demokratie und Globalisierung werden triumphieren, sondern auch die Innerlichkeit, die Vergebung und die Liebe.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 20.11.2016 23:53:26

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