Wer zweimal widerspricht, wird als renitent ausgebuht. Im ranking der Rhetorik steht die Rechtfertigung allemal höher als der Rat, weshalb es nach einem Tag Diskussion schon keinen Fakt und keine Wahrheit, ja, auch keine Meinung mehr gibt, sondern nur noch Parteien. Der berüchtigte Satz von Kaiser Wilhelm, mit dem er alle zum Krieg peitschen wollte, dass er keine Parteien mehr kenne, sondern nur noch Deutsche, war ein populistischer Appell, bei dessen Wirkung man allerdings die überhöhte Autorität des Kaisers nicht unterschätzen darf, dieser Satz stimmt höchstens umgekehrt.

Der Sachverstand lässt sich also immer vom Gefühl überrumpeln. Er kapituliert vor der erdrückenden Faktenlage. Jeder Fakt hat tausend Ursachen, jede dieser Ursachen hat aber auch tausend Folgen, von denen 999 nichts mit der Intention zu tun haben. Statt diese Komplexität immer wieder zu bedenken - denn verstehen kann man sie nicht - folgen wir lieber dem einfachen Schema, dass im besten Fall die Intention gleich der Ursache und diese gleich dem Ergebnis sei. Wir glauben das, weil wir nicht wirklich in der Welt leben, sondern immer in imaginären Räumen. Unsere Welt, schrieb schon Schopenhauer, ist nichts als unser Wille und unsere Vorstellung. Und Andy Warhol setzte fort: I NEVER READ I JUST LOOK AT PICTURES. Und das alles ist immer so gedeutet worden, dass der manipulierte Wille als der authentische wahrgenommen wurde. Kaum jemand ist nicht manipuliert. Je mehr die Nachrichtenmittel, um mal ein Wort aus der völlig absurden und überholten Sprache der Militärs zu benutzen, wir zur Verfügung haben, desto imaginärer ist unsere Vorstellung. Der Satz wäre natürlich trivial, wenn nicht ein zweiter folgen würde: Aber je imaginärer unsere Vorstellung von der Welt ist, desto mehr nehmen wir sie auch für die Wirklichkeit. Das Verachten, beispielsweise, der Medien unterstellt eine bessere Kenntnis. Man glaubt lieber einem Einzelnen, der sich zum Augenzeugen, zum Inbegriff der Authentizität erklärt, als den gut aufgestellten und deshalb in der Regel gut informierten öffentlichen Medien. Wenn man eine bestimmte Tendenz sucht, zum Beispiel dass es nicht so gut ist, mit Russland im Streit zu liegen, dann glaubt man sogar RUSSIA TODAY. Merkwürdigerweise sind am glaubwürdigsten Bauprojekte, obwohl sie fast gar nichts mit Politik zu tun haben: Wer die dritte Bosporusbrücke gebaut hat, kann nicht lügen, denn sie ist Fakt, sie ist zu sehen. Man kann sie übrigens genauso wenig begehen wie ihre Vorgängerinnen, weil es andernfalls zu viele Selbstmörder gäbe. Als Peter Scholl-Latour, der omnipräsente Korrespondent der öffentlichen Medien Deutschlands immer älter, aber nicht weniger präsent wurde, sagte er fast nur noch: ICH WAR DA als einziges und wichtigstes Argument. ICH WAR DA, sagte der Blinde, und ich hätte es sehen können. Indessen müssen nicht die Medien gescholten werden, die wir wollen und bezahlen, sondern unser Medienkonsum. Wir setzen uns vor den Fernseher und verwechseln ihn mit einem Fenster. Wir nennen ein Computerprogramm WINDOWS und glauben, hinter dem Monitor wäre die Welt. Allerdings ist diese Verwechslung kein Produkt der Neuzeit. Der verzerrte Blick ist der gleiche wie in der Steinzeit, nur die Nachrichtenmittel haben sich geändert. Es mag eine qualitative Verstärkung von den Dogmen zu den Platinen geben, aber man darf auch wieder die quantitative Zunahme der Menschenmassen nicht unterschätzen. Jetzt wird ein ganz normaler Fake von einer Milliarde Menschen geglaubt, nicht mehr nur von einem Dutzend. Das Dutzend ist so unwichtig geworden, dass wir im Begriff sind, das Wort zu vergessen. Der Einzelne gerät in Vergessenheit, er zählt nur noch als Zahl.

Trotzdem haben es die Querdenker heute leichter. Sie können sich eine Öffentlichkeit schaffen, wo früher für sie mediale Dunkelheit war. Sie können darauf bestehen, dass sie immer wieder angehört werden. Jede Verwaltung wird gelähmt, wenn sie am Tag, sagen wir, tausend emails erhält. Das hält auf Dauer niemand aus. Eine Bank, der man das Darlehen in Eincentmünzen heimzahlte, müsste schließen. Im Internet kursieren nicht nur Verschwörungstheorien, die es aber seit Beginn der Neuzeit gibt, sondern auch immer wieder fast gleichnishafte Geschichten über den Sieg des einfachen Mannes und der einfachen Frau über die Willkür der Behörden. Diese Willkür gibt es in rohen Ländern als Steinigung oder Aufhängen an Baukränen, in aufgeklärten Ländern als Gerichtsprozess oder Entmündigungsverfahren. Der Unterschied ist die Umkehrbarkeit des einen Verfahrens oder die Unumkehrbarkeit des anderen. Aber immer erklärt die eine Seite sich für Recht und Ordnung, Fortschritt und Volkswohl, die andere Seite wird dagegen als Querulant denunziert.

Das Dilemma, dass eine Behörde nur für glaubwürdig gehalten wird, wenn sie sich durchsetzt und erfolgreich ist, dass das aber nur unter Missachtung sozusagen von 999 Nebenwirkungen realisierbar ist, hat auch jeder einzelne Mensch. Seine Lösung heißt Scheitern. Und weil wir mit dem Scheitern nicht leben können oder wollen, bleibt es ein ewiges Dilemma. Ewig ist ein relativer zeitlicher Begriff, nichts ist ewig, aber alles lebt fort, alles stirbt, aber bleibt bewahrt.

Der EU-Austritt Großbritanniens ist ein gutes Beispiel für unser Gedankenexperiment. Die Briten sind nicht weniger oder mehr Querulanten als andere, aber ihre Regierung hat etwas getan, das eigentlich nur Diktatoren tun. Sie hat die Ursache des eigenen Versagens nach außen, in die EU, verlegt. Dann zeigt sich: es gibt gar nicht den oder die Briten. Britannien ist ein administratives Konstrukt wie alle anderen Länder der Welt. Der eine Bürger sieht sich als Schotte, der andere glaubt, er sei Europäer, der eine Christ, der nächste Jude oder Muslim. Noch vor kurzem war man wenigstens Mann oder Frau, so glaubte man und so wollen die rechtskonservativen Populisten ihren followern weismachen. Dass selbst die Eltern mehr Konstrukt als Tatsache sind, dafür stehen die Dioskuren auf der Piazza del Quirinale auf einem der sieben Hügel Roms. Sie sind Halbbrüder und gleichzeitig Zwillinge, sterblich und gleichzeitig unsterblich, von ihrem genetischen Schicksal ebenso domestiziert, wie die Pferde oder anderen mobiles, die sie domestizieren, wie wir alle, eine vollendete Metapher des Menschseins. Wo sie übrigens heute stehen, sind sie eine Kopie der Kopie der Kopie.

Wünschen wir uns für die Zukunft neben einem Leben ohne Verunglimpfung und einer Behörde ohne Nebeninteressen auch eine Welt, in der man nicht querdenken muss, sondern einfach nur denken kann.

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fischundfleisch

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sisterect

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