Die Inflation der Dinge erst lässt uns mit der Trauer hadern. Wir wollen und müssen über Verluste nicht mehr traurig sein. Jedes Ding ist ersetzbar, wenngleich manches nur mit Ratenzahlung. Auch die Bindung an Tiere und Menschen lässt mit wachsenden Möglichkeiten nach. Der Tod bleibt der Tod, aber auch er lässt meistens auf sich warten. In den Pflegeheimen dämmern Menschen vor sich hin. Pflege ist von einer barmherzigen Handlung zu einer abrechenbaren Leistung geworden. Der Vorteil der Abrechenbarkeit ist deren Einklagbarkeit. Was sich wirtschaftlich durch Verträge definiert, ist auch immer ein Rechtsgegenstand.
Aber woher wissen wir, wie die Barmherzigkeit organisiert war? Wenn wir die verschiedenen Franziskanerorden als jahrhundertelange Träger der Barmherzigkeit ansehen, dann lebten die Mitglieder dieser Orden zwar in relativer Armut, aber sie erwirtschafteten sehr wohl einen Gewinn aus der Barmherzigkeit, der sich heute noch in ihren großen erhaltenen Bauten zeigt. Es scheint auch, dass das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter - heute würde man wahrscheinlich eher Samaritaner sagen - nicht einen allgemeinen Mangel an Barmherzigkeit, sondern eine Überbürokratisierung derselben kritisieren soll. Denn alle die Menschen, die an dem verletzten und ausgeraubten Kaufmann vorbeigingen, wären auch nach damaliger Vorstellung zu Hilfeleistung verpflichtet gewesen. Die Inflation an Bedarf führt vielleicht immer zu einer Kommerzialisierung der Hilfeleistung. Daraus folgt ein Mangel an Trauer. Dieser wiederum wird durch anonyme Bestattungen aufgefangen: Wo es keinen Ort der Trauer gibt, muss man auch nicht trauern.
Die Dinge dagegen sind in unserem Teil der Welt schon seit über hundert Jahren im Überfluss vorhanden. Davor wurde jedes einzelne verlorene oder zerstörte Teil betrauert. Wir haben schon einmal das Märchen der Brüder Grimm zitiert, das von einem Großvater erzählt, dem die irdene Schüssel und der Platz am Tisch vorenthalten wurden, weil er solch einen Tremor hatte, dass er nach Meinung seiner hartherzigen Kinder einen Pflegeplatz erhalten musste. Erst der Enkel entdeckt die Illoyalität, die sich hinter dieser Bestrafung des Alt- und Schwachwerdens verbirgt. Zu bedauern wäre eine Gesellschaft, der die Enkel ausgehen. Beinahe könnte man an eine Fügung des Himmels denken, als in Paris vor ein paar Tagen ein kleiner verlassener Junge an einer Balkonbrüstung hing, weil er einen Weg in die Freiheit suchte, und von einem illegalen Einwanderer, Mamoudou Gassama aus Mali, in einem wahrhaft heroischen, athletischen und akrobatischen Akt der Barmherzigkeit in letzter Sekunde gerettet wurde. Es muss nur der richtige Enkel zu Stelle sein, wenn erstarrte Gesellschaften versagen.
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Nicht überall auf der Welt ist die Verachtung der Dinge aus ihrer inflationären Unmenge so groß wie bei uns. In vielen Megastädten gibt es Slums auf den Müllhalden. Dort wird Müll in mühsamer und ekliger Handarbeit recycelt. Lima, Lagos und Lahore sind Beispiele, in denen Millionen Menschen mehr vegetieren als leben. Die Welt ist aber nicht aus den Fugen, sondern sie kann nicht in den Fugen, nicht im Gleichgeweicht sein. Die Summe aller Ungleichgewichte kann kein Gleichgewicht werden. Harmonie, das ideale Gleichgewicht, ist neben dem Wunder das einzige, das keine Inflation hat. Das Streben nach immer mehr Dingen und Glücksgefühlen erzeugt ein immer tieferes Unbehagen.
Zum Beispiel fühlen sich in einer immer sicherer werdenden Welt so viele Menschen verunsichert. Der Diebstahl eines Apfels oder eines Fahrrades war vor 150 oder 100 Jahren eine Katastrophe. Äpfel werden heute aus Neuseeland importiert, das Fahrrad erlebt eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes, es ist praktisch allgegenwärtig. Die Verbrechen nehmen ab, aber die Angst nimmt zu. Der Wohlstand nimmt zu, aber mit ihm auch die Unzufriedenheit. Der Neid war, wie sich jetzt zeigt, nicht an die Armut gekoppelt. Wieder so eine Umkehrung der Tatsachen ist es aber zu glauben, dass die Solidarität mit der Armut gepaart und demzufolge früher größer war. Die Solidarität ist heute in Wohlfahrtsstaaten organisiert, deshalb heißen sie so und wir geben - gern? - vierzig und mehr Prozent unserer Einkommen an die Gemeinschaft ab. Sowohl der Appell als auch die Gabe ist institutionalisiert. Nur sind die Institutionen heute andere als damals, als die Franziskaner für die Barmherzigkeit bettelten und große, schöne Kirchen bauten.
Scherben bringen natürlich kein Glück, und Glück bricht auch nicht so leicht wie Glas. Eher bringen Scherben Unglück, wenn man barfuß in sie tritt. Mit solchen Sprüchen trösteten sich vielmehr unsere Vorfahren, wenn ihnen Unglück widerfuhr. Sie sahen in dem Unglück des Verlustes den Boten des künftigen Glücks. Auch damals wussten die Menschen schon von der Sinusförmigkeit des Lebens, vielleicht sogar aller Prozesse, aller Bewegung. Denn auch das Wasser sucht sich seinen Weg nicht geradlinig. sondern in Kaskaden und Mäandern, benannt nach dem ersten Fluss, der so beschrieben wurde: der altgriechische Mäandros, türkisch Menderes, in Kleinasien. In der Türkei ist es zudem ein äußerst sinnträchtiger Personenname. In dieser Sinuosität den Sinn des Lebens zu entdecken, ist schwer. Vielmehr kann man die umgekehrte Wahrnehmung daran erklären: statt unten im Tal froh zu sein, dass es bald aufwärts geht, jammern wir gern, dass und wie weit wir unten sind. Statt oben ängstlich die Talfahrt zu erwarten, triumphieren wir blind auf dem Gipfel, der eben nicht nur der Gipfel des Glücks, sondern der Ausblick in das Tal ist. Die barocke Sprache mit ihrem Jammertal und himmlischen Freudenstrahl traf das schon nicht schlecht. Man muss trotzdem lernen, mit Verlust zu leben, aber den Verlust auch als Verlust zu empfinden und nicht aus der Inflationsmasse immer wieder neu zu substituieren. Ein Substitut, ein Ersatz, kann helfen, aber eigentlich auch nur hinwegtäuschen. Denn das ursprüngliche Ding, das ursprüngliche Tier, der ursprüngliche Mensch hatte eine Geschichte (history und story), die mit ihm verschwindet, wenn wir sie nicht in Fiktion verwandeln und weitererzählen. Der einzige Trost ist die Trauer.